Ostfriesengrab
wirklich große Leistung musste sich gegen diese Armee des Mittelmaßes durchsetzen.
Jeder wirklich große Künstler stand irgendwann vor dieser
Mauer aus Dummheit und Ignoranz. Die Phalanx aus Verhinderern, die jede aufkeimende Vision von etwas Neuem fürchtete und deshalb unmöglich machte, ließ viele Genies verzweifeln.
Er hatte seinen sehr eigenen Weg gefunden, damit fertig zu werden. Er war stolz auf sich. Und seit Meulings Tod hatte er endlich wieder freie Bahn.
Ann Kathrin Klaasen war froh über Heiner Zimmermanns Besuch. In so einer Situation brauchte ein Mann einen Freund. Und Heiner war Franks Freund, das spürte sie auf einer tiefen Ebene, als die beiden sich umarmten und stumm da standen, fast wie ein Liebespärchen. Jeder drückte den anderen so fest, dass ihm fast die Luft wegblieb.
Sie sah die Tränen in Franks Augen. So ist das, wenn man einen Freund hat, dachte sie. Er urteilt nicht, er hört zu, er ist da, auch in Krisen.
Sie fragte sich, ob ihr Exmann Hero auch so einen Freund hatte. Gab es einen Mann, mit dem er sich wirklich austauschte? Er empfand doch jedes männliche Wesen in seiner Nähe nur als Konkurrenz, umgab sich mit Klientinnen, Psychologinnen, Sozialarbeiterinnen. Gab es außer seinem Sohn überhaupt einen Mann, den er in seiner Nähe duldete?
Wenn er seine Boxsendungen im Fernsehen sah, hatte er alleine vor dem Bildschirm gesessen. Nein, eine Männerfreundschaft gab es für Hero nicht.
Frank war da ganz anders. Der spielte Skat, der traf Kollegen. Er war nicht in jeder freien Minute hinter einer Frau her.
Sie kochte Kaffee und holte Säfte für die beiden aus dem Kühlschrank. Als sie ins Wohnzimmer kam, schlug ihr eine Qualmwolke entgegen. Eigentlich hatte sie ihr Haus zur rauchfreien Zone erklärt, und das Wetter war auch gut genug. Auf der Terrasse standen die Gartenmöbel bereit und am Strandkorb wartete eine Dessertschale mit Sand, die manchmal von
Gästen als Aschenbecher benutzt wurde. Aber sie wollte jetzt nicht meckern und diese Situation nicht kaputtmachen.
Heiner Zimmermann hörte nur zu und nickte. Er war ganz auf seinen Freund Frank konzentriert, dabei rauchte er mit tiefen Zügen, und sein Ausatmen war ein verständnisvolles Stöhnen.
Zu wem würde ich gehen, dachte Ann Kathrin. Zu meiner Freundin Ulrike? Ist die überhaupt noch meine Freundin? Was wissen wir voneinander, seitdem sie Hausfrau und Mutter geworden ist? Sie nahm sich vor, Ulrike anzurufen, aber nicht jetzt. Jetzt war Frank wichtiger. Trotzdem wusste sie nicht, ob sie im Wohnzimmer bei den beiden Männern störte oder ob ihre Anwesenheit als Bereicherung empfunden wurde.
Sie stellte das Tablett auf den Tisch. Heiner Zimmermann nahm die freundliche Geste mit einem Seitenblick und einem kurzen Nicken zur Kenntnis, aber keiner von beiden rührte die Getränke an.
Die Asche an Heiners selbstgedrehter Zigarette wurde immer länger. Es gab hier im Haus keine Aschenbecher, nur auf der Terrasse stand einer.
Franks Worte bestürzten Ann Kathrin sehr. Seine Ehrlichkeit schnürte ihr fast den Hals zu.
»Ich krieg Angst vor mir, Heiner. Verstehst du? Das war keine Notwehr. Ich hab ihn richtig abgeknallt. Ich hab in blanker Wut geschossen. Als ich nach Groningen kam, sah ich da diese Skulptur von dir, diese Meerjungfrau. Sie hatte Brüste wie … «
Weller verschluckte die Worte mit Rücksicht auf Ann Kathrin und biss sich auf die Unterlippe, doch Heiner Zimmermann sprach es für ihn aus: »Wie Renate. Ja. Die linke ein klein wenig größer als die rechte. Der Vorhof mit dieser kleinen Erhebung, fast so, als würde ihr eine weitere Brustwarze wachsen. Sie ist eine wirklich schöne Frau, Frank. Aber was hat mein Kunstwerk damit zu tun, dass du diesen Killer erledigt hast? Du warst
doch nicht wirklich eifersüchtig auf mich, weil ich sie gemalt und modelliert habe?«
Frank schüttelte vehement den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Ich war nicht wütend auf dich, sondern auf mich. Und auf Meuling. Auf all diese Gewinner, denn die haben aus mir einen Verlierer gemacht.«
»Einen Verlierer?« Heiner Zimmermann drückte seine Zigarette im Unterteller aus, sprang auf, drehte sich mit offenen Armen im Raum und lachte Weller schallend aus. Ann Kathrin fürchtete, dass er damit alles nur noch schlimmer machen würde, doch das war nicht so.
»Na klar, du bist ein Verlierer! Du wohnst in diesem wunderschönen Haus, du hast diese zauberhafte Frau und einen sicheren Job mit dreizehn Monatsgehältern!«, spottete
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