Ostfriesengrab
loszuwerden. Sie überlegte, ob sie ihm ein Trinkgeld geben musste. Ihr war dieser Mensch sehr unangenehm und lästig,
aber er fragte, ob er kurz hereinkommen dürfe und vielleicht ihr Bad benutzen könnte. Er müsse mal zur Toilette.
Sie war zu einem freundlichen, hilfsbereiten und anständigen Menschen erzogen worden, und manchmal fragte sie sich, ob ihr das im Leben nicht mehr schadete als nutzte. Jetzt zum Beispiel. Sie konnte einfach nicht nein sagen.
Sie zeigte ihm den Weg ins Bad, und die federnde Art, mit der er durch den Flur ging und sich umsah, gefiel ihr überhaupt nicht.
Vermutlich glaubt er, dass ich alleine bin, dachte sie. Die Blumen sind für meinen Lebenspartner von irgendeiner Flamme als Dankeschön für eine heiße Nacht und er glaubt, dass ich in Tränen ausbreche, sobald ich die Tür hinter mir geschlossen habe. Er würde mich nur zu gerne trösten.
Sein Verhalten erinnerte sie sehr an das von Meuling. Dann genierte sie sich. Vielleicht tat sie ihm ja auch unrecht.
Er brauchte lange auf der Toilette. Sie hatte die Blumen bereits auf zwei Vasen verteilt und zu Weller ins Wohnzimmer gebracht, als sie endlich die Spülung hörte.
Bevor sie den jungen Mann an der Tür verabschieden konnte, flüsterte er ihr noch zu: »Wenn Sie wollen, kann ich ja für Sie mal ein paar Nachforschungen anstellen, woher die Blumen genau sind.«
Er wollte ihr seine Visitenkarte geben, doch sie schob ihn aus der Tür. »Nein, danke.«
Weller hatte noch gar nicht kapiert, dass die Blumen für ihn waren. Er stellte resigniert fest: »Na, das geht aber schnell.«
»Was?«
»Dein Ex wittert doch jetzt vermutlich, dass er dich zurückhaben kann, nach der blamablen Nummer, die ich abgeliefert habe.«
Ann Kathrin musste laut lachen. »Du glaubst, dass die von Hero sind?«
An der Pforte der Polizeiinspektion Aurich im Fischteichweg wurde ebenfalls ein Strauß Blumen für Frank Weller abgegeben, außerdem eine Packung Pralinen von Remmers in Norden.
In den Briefkasten von Wellers Junggesellenbude in Aurich warf Jutta Spiekermann persönlich einen vier Seiten langen handgeschriebenen Brief ein. Sie hatte vor dem Fernseher gesessen und die aktuelle Sendung über die Geschehnisse in Groningen verfolgt und begriffen, warum sie ihren Mann nicht mehr liebte. Er ließ einfach alles mit sich machen. Die Kinder schubsten ihn genauso herum wie sein Arbeitgeber. Er versuchte, es allen recht zu machen und verschwand dabei als Persönlichkeit. Er wurde immer mehr zu einem Glas, in das jeder hineingießen konnte, was er wollte. So wurde es ein Glas Bier, ein Glas Milch, ein Glas Wasser – er selbst besaß keinerlei Persönlichkeit mehr. Er war zu einem devoten Schoßhündchen geworden.
Wenn er doch nur einmal beherzt für etwas gestanden hätte. Einmal wenigstens den Versuch gemacht hätte, durchzugreifen oder sich zu wehren. Tief in ihrer Seele wollte sie von einem Helden geliebt werden und nicht von einem Waschlappen.
Sie schrieb an Weller einen Liebesbrief. Den ersten seit einundzwanzig Jahren. Sie schrieb sich all ihren Frust von der Seele.
Solange es Männer wie Sie gibt, ist die Welt noch nicht verloren. Ich lebe in einer festen Beziehung. Ich habe einen Mann und zwei Kinder. Ich habe Sie bis heute noch nicht persönlich gesehen. Aber ich weiß eines, Herr Weller: Ein Wort von Ihnen, und ich verlasse meinen Mann …
Statt einer Unterschrift zierte der Abdruck ihrer Lippen das Papier.
Mehr als ein Dutzend E-Mails, in denen Weller wortreich auf die Schulter geklopft wurde, erreichten die Polizeiinspektion Aurich. Ubbo Heide wurde zu diesem mutigen Mitarbeiter beglückwünscht.
Zwei Jugendliche drückten sich vor der Polizeiinspektion eine Weile herum, bis sie gestanden, auf Weller zu warten, weil sie ein Autogramm von ihm haben wollten. Er sei nämlich der Coolste.
Am absoluten Tiefpunkt seines Lebens erhielt Weller zum ersten Mal Fanpost. Aber er war noch nicht in der Lage, diese Ironie wirklich zu begreifen.
Er pfiff ein fröhliches Kinderlied vor sich hin und trommelte mit den Fingern den Rhythmus aufs Lenkrad. Er lachte laut und richtete den Rückspiegel so aus, dass er nicht den nachfolgenden Verkehr darin sah, sondern sein eigenes Gesicht.
War das nicht ein wunderbarer Tag?
»Danke, Frank«, lachte er. »Das war genau die Unterstützung, die ich gebraucht habe. Ihr habt den Mörder, und du hast ihn auch noch gleich umgelegt. Jetzt kann ich in Ruhe meine nächste Tat vorbereiten, und die jungen Frauen
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