Ostfriesengrab
nichts. Als ob sie ihre Wahrnehmung verloren hätte. Aber ihr Verstand arbeitete rasend und versuchte, sich ein Bild von der Situation zu machen.
Sie musste sich in einem Raum befinden, sonst wäre irgendein Luftzug zu spüren. Es müsste ein Stern am Himmel zu sehen sein. Das Geräusch einer fernen Straße zu hören oder zumindest ein paar Vögel. Hier war nichts. Gar nichts.
Sie wollte sich selbst berühren, um sich zu spüren, dann erst verstand sie, dass ihre Hände gefesselt waren und ihre Beine.
Das Licht ging an. Es war wie ein alles erhellender Blitz, dessen Heftigkeit augenblicklich blind machte. Sie hielt die Augen geschlossen und stellte sich schlafend, aber ihre Atmung hob und senkte den Brustkorb verdächtig schnell.
Sie überlegte, was jetzt klüger wäre, und versuchte, die Situation wie eine Rechenaufgabe zu überdenken. Welche Möglichkeiten
gab es? Welche Chancen? Konnte alles ein dummer Studentenwitz sein?
Sie hatte Mühe, sich zu erinnern, und ihr Kopf schmerzte. Hatte sie Drogen genommen? Hatte sie sich auf irgendwelche Sexspiele eingelassen? War das hier irgendeine SM -Nummer?
Sie konnte nicht schlucken. Sie hatte etwas im Mund, das plötzlich einen Brechreiz hervorrief. Sie versuchte es auszuspucken, wollte sich aufbäumen und ihn ansehen, doch dann spürte sie einen Pinsel an ihrer rechten Wade. Malte er sie an?
Sie wollte schreien, aber sie hatte einen Knebel im Mund. Sie konnte nicht einmal husten. Dann spürte sie die Klinge. Er rasierte ihr die Beine.
Er hatte registriert, dass sie aufgewacht war, und brachte seine Arbeit in Ruhe und ohne ein Wort zu sprechen zu Ende. Ihr linkes Bein war schon rasiert. Als er sorgfältig die letzten Haare vom rechten geschabt hatte, trocknete er die Haut ab und massierte sie mit einer beruhigenden, kühlenden Lotion. Sie roch nach Mandelblüten, und dieser Duft erinnerte sie an Mallorca.
Der Geruch kam ihr so normal, so gut, so himmelschreiend richtig vor, dass ihr die Tränen aus den Augen schossen und das Tuch tränkten, mit dem er ihr die Augen verbunden hatte.
Er löste das Tuch. Das Licht blendete sie. Dann trat er zwei Meter von ihrem Lager zurück, um sie besser betrachten zu können. Ihre Haare waren feucht und ihre Kopfhaut brannte. Er hatte etwas mit ihren Haaren gemacht. Sie sah als Erstes seine Finger. An ihnen klebte Rasierschaum.
Er legte den Pinsel auf einen Beistelltisch und wischte sich mit einem Frottétuch die Hände ab. Er war ohne jede Eile. Was er auch tat, er wendete den Blick nicht von ihr ab. Er tat alles langsam, als würde er jede Sekunde genießen und alles in sich aufsaugen. Ja, seine Augen kamen ihr vor wie ein höchst effektiver Staubsauger. Sie hatte fast Angst, darin zu verschwinden und von seinen Blicken geschluckt zu werden.
Sie dachte an ihre Mutter. Die hatte mal über einen Nachbarn gesagt, er wäre ihr unangenehm, in seiner Nähe hätte sie immer das Gefühl, er würde sie mit seinen Blicken aufessen. Jetzt wusste sie, was ihre Mutter damit gemeint hatte.
Sie erkannte, dass sie in einem schallisolierten Raum lag. Die Wände waren mit grauem Melamin-Noppenschaumstoff überzogen. Die Form erinnerte sie an die Schachteln, in denen auf dem Markt in Münster Eier verkauft wurden.
Räume wie dieser waren ihr nicht unbekannt. Zweimal hatte ein Gitarre spielender Student versucht, sie zu beeindrucken, indem er sie mit ins Tonstudio nahm.
Warum, dachte sie, hat er mir diese Stofflappen in den Mund gesteckt, wenn mein Schreien doch niemand hört? Noch einmal versuchte sie, das Zeug herauszuwürgen.
Er trat zu ihr und fasste den Stofffetzen mit spitzen Fingern an.
»Bitte versprich mir, nicht zu schreien«, sagte er. »Dich kann sowieso niemand hören. Aber es nervt mich. Es macht die ganze Stimmung kaputt. Ich kann schrille Töne nicht ertragen. Babygeschrei bringt mich um … « Er lächelte.
Na schön, du Arschloch, dachte sie, dann weiß ich ja jetzt, wie ich dich kaltmachen kann. Aber sie gab keinen Ton von sich. Ihr Mund war ausgetrocknet. Die Zunge pelzig und geschwollen.
Er erkannte sofort ihr Problem und nahm von einem Tischchen ein Glas Wasser. Er hielt es ihr mit einem Strohhalm an die Lippen. Sie saugte das kühle Leitungswasser gierig ein und hoffte, dass er ihr damit nicht wieder irgendein Scheißmittel verabreichte.
Beim Trinken hob sie den Kopf höher. Er stützte ihn mit einer Hand ab wie ein hilfsbereiter Krankenpfleger. Aus dem veränderten Blickwinkel konnte sie auf das Tischchen sehen,
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