Ostfriesengrab
von dem er das Glas und das Handtuch genommen hatte. Dort
lagen noch mehr Utensilien. Neben mehreren Pinseln Einweg-Nassrasierer von Wilkinson. Eine Spritze, ein Schlauch und ein Blutbeutel. Im Krankenhaus hatte man ihr nach der Blinddarmoperation einen Katheder gelegt. Das sah genauso aus.
Was hatte dieser kranke Idiot mit ihr vor?
»Bitte«, sagte sie ganz leise, um ihn ja nicht wütend zu machen. »Ich tue, was Sie wollen. Aber lassen Sie mich gehen.«
Der sanfte Klang ihrer Stimme gefiel ihm und stimmte ihn milde. Aber er antwortete nicht, sondern begab sich in einen Winkel des Raumes, der für sie nicht einsehbar war. Von dort kam er mit einem großen Spiegel zurück. Er hielt ihn hoch, sodass sie sich selbst fast ganz sehen konnte.
»Gefällst du dir?«, fragte er.
Sie sah sofort, dass er ihr die Haare gefärbt hatte. Sie war völlig nackt und unter den Achselhöhlen rasiert. Auch Schamhaare besaß sie nicht mehr.
Natürlich wusste sie, wer der »Friseur« war. Sie hatte viel über diesen Frauenmörder in der Zeitung gelesen und im Fernsehen gesehen. Aber der war ja nun keine Gefahr mehr, er war doch tot. Ein Polizist hatte ihn erschossen, und sie war mit ihrem Vater der Meinung, der Polizist habe richtig gehandelt, zum Schutz der Öffentlichkeit.
»Besser so, als dass irgendein schwachsinniger Richter den Täter nach zehn Jahren wieder freilässt«, hatte ihr Vater am Frühstückstisch gesagt und dabei betont, dass er immer noch gegen die Todesstrafe sei, weil der Staat nicht zum Mörder werden dürfe.
Manchmal formulierte ihr Vater so widersprüchliche Thesen. Durch ihn hatte sie gelernt, in Widersprüchen zu denken. Die Dinge waren nicht schwarz oder weiß, sondern meistens von beidem ein bisschen. In vielem Richtigen lag auch etwas Falsches und in vielem Falschen konnte sie Richtiges entdecken.
Die Frühstücksgespräche mit ihrem Vater jagten durch ihr
Gehirn, so als brauche sie etwas, woran sie sich festhalten konnte, um nicht durchzudrehen.
Ann Kathrin hielt es mit Weller im Distelkamp nicht länger aus. Sie hatte keine Angst, in seiner Nähe depressiv zu werden. Seine Stimmung hatte nichts Klebriges. Er versuchte nicht, sie mit runterzuziehen. Er saß nur einfach da in seinem Schmerz, und es war schwer für sie, zusehen zu müssen und ihm nicht helfen zu können. Machtlos zu sein, ertragen zu müssen, was geschieht, und dem geliebten Menschen keinen Rettungsring zuwerfen zu können machte sie einfach fertig.
Sie fuhr mit dem Fahrrad zum Deich, in der Hoffnung, dort auf andere Gedanken zu kommen. Sie befand sich in einer tiefen Krise mit sich selbst und mit ihrem Beruf. Sie sah ihren Vater vor sich, wie er aschfahl und gedemütigt nach Hause gekommen war. Er wollte nicht reden. Trank nicht mal seinen geliebten Doornkaat. Er saß nur und starrte die Wand an. Der Garten interessierte ihn nicht, und auf die Worte seiner Frau, was denn mit ihm los sei, reagierte er nicht. Ein paar schreckliche Tage hatte Ann Kathrin ihn so erlebt – kraft- und interesselos. Dann war langsam seine Lebensenergie zurückgekommen und auch das verschmitzte Lächeln sah sie wieder in seinem Gesicht. Er hatte ihr nie erzählt, was damals passiert war. Doch wenn er auf die Zeit angesprochen wurde, sagte er: »Entwicklungen, Ann Kathrin, finden immer in Krisen statt. Entweder die Dinge hauen einen um oder sie bringen einen weiter.«
War dies so eine Situation?
Sie stellte ihr Rad bei der Seehundstation ab und ging den Rest bis zum Deich zu Fuß. Dann joggte sie auf dem Deichkamm. Sie sah aufs Watt und die Salzwiesen. Norderney lag wie eine leuchtende Einladung vor ihr. Ann Kathrin lief im Schatten weißer Wolken, doch über Norderney gab es ein Sonnenloch, während Juist in einem merkwürdigen Dunst fast verschwand. Ann Kathrin
wertete das als Zeichen, dass sie etwas im Moment nicht sah. Etwas, das da war, aber während sie sich den angeleuchteten, hellen, grellen Teilen zuwendete, blieb etwas im Dunkeln.
Hatte sie etwas übersehen? Sie bezog das alles auf den Tod ihres Vaters. Doch dann leuchtete am Rand ihres Bewusstseins etwas auf. Es durchfuhr sie wie ein Blitz. Sie spürte es als Kribbeln auf der Haut.
Wo waren die Kleider des dritten Opfers? Meuling hatte sie sicherlich nicht einfach ins Meer geworfen. Der Täter, der alles inszenierte, um die Menschen zu schockieren, ließ es sich doch bestimmt nicht entgehen, ein weiteres »Geschenk« für die Polizei zu packen. Er konnte es schlecht neben ihr ins Meer
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