Ostfriesengrab
ich will alle Bilder, alle Skizzen – ich möchte das Ganze ungeschehen machen. Falls du Auslagen hattest, erstatte ich dir das Geld gerne.«
Er erhob sich, reckte die Arme zur Decke wie jemand, der sich ergibt, und sagte: »Okay, okay. Du kannst alles haben. Natürlich kostet es nichts. Aber schau dir die Skizzen wenigstens an, damit du weißt, was du wegwirfst. Es ist ein Teil von dir, den du dann verbrennst und ablehnst.«
Er nahm ihr das Glas aus der Hand. »Es schmeckt dir nicht. Das sehe ich doch.«
Er ging mit dem Glas zur Obstschale, nahm eine Zitrone heraus, teilte sie durch und drückte eine Hälfte in der Faust zusammen. Die Tropfen fielen ins Glas. Dann drehte er Ann Kathrin den Rücken zu, ging mit dem Glas zur Anrichte, nahm einen Löffel heraus und rührte damit laut klirrend im Wasserglas herum. Er holte Eiswürfel aus dem Kühlschrank und ließ sie ins Glas fallen.
Er reichte ihr erneut das Glas. »Sehr aufmerksam«, sagte sie und trank. Das zitronensaure kalte Wasser tat gut.
Draußen fuhren mehrere schwere Motorräder vorbei. Ann Kathrin erkannte deutlich den Sound einer Harley Davidson Dyna und einer VN 900 Kawasaki. Dann hupte ein Lkw.
Er eilte die Treppe hoch, um seinen Skizzenblock zu holen. Er nahm jeweils drei Stufen mit einem Schritt.
Sie wollte ihm folgen, doch schon auf der Hälfte zur Treppe kam er ihr mit einer Mappe unterm Arm wieder entgegen.
»Darf ich nicht raufkommen?«
»Was interessiert dich meine Kunst? Es würde dir doch nur wehtun.«
»Wehtun? Wie soll ich das verstehen?«
»Wehtun, wenn du siehst, wie frei andere sind.«
»Du meinst, sie sind freier als ich, nur weil sie sich von dir malen lassen?«
Er trug die Mappe, auf der Treppe stehend, wie ein Schutzschild vor seinem Körper, öffnete sie und hielt sie dabei halb verdeckt, so als wolle er vermeiden, dass Ann Kathrin hineinschauen konnte. Er fischte drei DIN -A 2 große Skizzen heraus.
»Bitte schön, Herr Reichsgauleiter, ich übereigne auch diese artfremden Werke dem Feuer … «
»Das ist gemein«, sagte sie. »Warum tust du das?«
Sie konnte sich nicht dagegen wehren, obwohl sie gerade wütend auf Heiner Zimmermann wurde, warf sie einen Blick auf die Bilder und erkannte sich auf Anhieb. Aber da war noch etwas außer Wut. Ein merkwürdiger Stolz. Ein inneres Kribbeln, als müsse sie gleich aufstoßen. So freudig erregt war sie als kleines Mädchen manchmal gewesen, wenn sie wusste, dass Papa gleich nach Hause kommt und er bereits angekündigt hatte, ein Geschenk für sie mitzubringen. Ein Eis, ein paar Bonbons, ein schönes Tuch. Er liebte es, sie mit Kleinigkeiten zu überraschen. Aber für sie waren es Liebesbeweise. Jedes Bonbon sagte ihr, mein Papa denkt an mich. Mein Papa liebt mich. Mein Papa vergisst mich nicht.
Etwas an diesen Bildern war anders, als sie es in Erinnerung hatte. Auf dem einen stieg sie aus dem Sarg und griff nach oben, als wolle sie etwas an der Decke erreichen. Auf dem zweiten hatte sie eine Krone auf dem Kopf. Das andere war genauso,
wie sie sich damals hingestellt hatte, bevor die SOKO das Haus stürmte.
»Warum hast du mir diese Krone aufgesetzt?«, fragte sie.
Er ging zwei Stufen tiefer, ihr entgegen, ohne dass sie auswich.
»Weil du damals für eine kurze Zeit zu einer Königin geworden bist, Ann Kathrin. Jetzt fühlst du dich ja scheinbar als Sklavin wohler.«
»Ich war nie eine Sklavin.«
»O doch. Du weißt genau, wovon ich rede. Wer nicht sein kann, wer er wirklich ist, der ist ein Sklave, Ann Kathrin. Egal, ob er im realen Leben eine strenge Uniform trägt oder eine Clownskappe. Frei ist man nur hier«, sagte er und klopfte auf seine Brust.
Plötzlich kam ihr ein Verdacht. »Du hast da oben noch ein Bild von mir.«
Er schüttelte grinsend den Kopf. »Nein. Bestimmt nicht. Vertrau mir.«
»Ich will es sehen. Lass mich hoch. Warum lässt du mich nicht nach oben?«
»Spiel nicht verrückt, Ann Kathrin. Wenn ich dich hintergehen wollte, wäre das doch überhaupt kein Problem für mich. Ich brauche diese Skizzen nicht. Ich kann alles aus dem Gedächtnis malen. Ich könnte dich in hundert Stellungen zeichnen, immer wieder aufs Neue.«
»Du malst doch gerade. Ich sehe es an deinen Händen. Zeig mir das Bild.«
»Nein, ich kann dich da jetzt nicht hochlassen. Du hast dich selber aus der Show gekickt. Du spielst nicht mehr mit.«
Sie wollte sich mit den Zeichnungen in der Hand und ihrem Wasserglas an ihm vorbei nach oben drängen, aber er lehnte sich mit
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