Ostfriesengrab
Stimme kriegst du keinen Preis in diesem Land.«
Ann Kathrin staunte: »Ich hatte keine Ahnung, dass er so einflussreich ist.«
Heiner Zimmermann zuckte mit den Schultern und zog die Nase hoch. »Er hat die Diktatur des Mittelmaßes in Deutschland mitbegründet. Und jetzt hat er auch noch den Mitleidsbonus. Seine Werke werden den zehnfachen Preis erzielen. Im Grunde müsste er dem Täter dankbar sein.«
Der Gedanke irritierte Ann Kathrin. »Du meinst, der Mord hat ihm genutzt, nicht geschadet?«
Heiner Zimmermann goss aus einer Kristallkaraffe ostfriesisches Leitungswasser in zwei mundgeblasene Gläser. Eines reichte er Ann Kathrin, das andere leerte er gierig mit einem Zug.
»Ist das nicht oft so?«, fragte Heiner. »Da tötet einer im Zorn einen Mann und geht dafür fünfzehn Jahre ins Gefängnis, in Wirklichkeit hat er nur der Ehefrau die Scheidung erspart und den Kindern ermöglicht, früher ans Erbe zu kommen. Das war zwar nicht seine Absicht, aber doch das Ergebnis seiner Handlung. Der eine ist nur seine Wut los und die anderen können endlich ein unabhängiges, freies Leben führen.«
Ann Kathrin nippte an ihrem Wasserglas und bewegte sich dabei wie unabsichtlich im Raum. Sie suchte nach Aktskizzen, auf denen sie selbst zu erkennen war.
Da waren sie wieder. Gisela, die Kassiererin aus dem Combi, Michaela aus Gittis Imbiss … Ann Kathrin musste jetzt endlich auf den Punkt kommen. Es kam ihr fast so schwer vor wie früher die Gespräche mit ihrem Exmann Hero, wenn sie das Gefühl hatte, von dem Herrn Psychologen aufs Glatteis geführt zu werden. Er konnte ihr die Worte im Mund herumdrehen. Immer hatte sie am Ende das Problem, nie er.
Sie wollte Heiner Zimmermann nicht verletzen und nicht verärgern. Immerhin war er ein guter Freund von Frank. Ein Freund, um den sie Frank beneidete. Er hatte in einer schwierigen Situation genau die richtigen Worte gefunden. Sie mochte ihn. Vielleicht, weil er so anders war als die Kollegen, mit denen sie täglich zu tun hatte.
Sie räusperte sich. »Hast du an dem Porträt von mir weitergearbeitet? Gibt es Skizzen?«
Er freute sich. »Aber natürlich. Ich wusste, dass du wiederkommen würdest. Wir lassen uns doch von so einer blöden Polizeiaktion nicht den Spaß verderben, oder?«
»Bitte gib mir die Sachen. Ich will das alles nicht mehr.«
»Wie bitte? Was?«
»Du hast mich schon richtig verstanden. Ich weiß nicht mehr, warum ich mich darauf eingelassen habe. Ich kann das nicht machen. Ich arbeite als Kriminalbeamtin hier im Landkreis. Das Ganze könnte zu schnell aus dem Ruder laufen, das hast du ja gesehen. Plötzlich sind solche Bilder Teil einer Ermittlung. Werden an die Öffentlichkeit gezerrt und … «
Er ließ sich schwer in einen Sessel fallen, als habe er Angst, sonst ohnmächtig zu werden. Auf der Sessellehne lag ein Lappen mit vielen Farbflecken. Geistesabwesend nahm er ihn in die Hand und wischte sich damit die Hände ab und dann einmal über den Mund. Er sah aus, als würde er gleich hysterisch werden, doch er sprach ganz ruhig und sachlich, mit therapeutenmäßig einfühlsamer Stimme: »Du hast keinen Fehler gemacht, Ann Kathrin, sondern deine Kollegen. Wenn sich hier jemand genieren muss, dann die. Sie waren unprofessionell, unsensibel und haben sich benommen wie … «
Sie wehrte ab. »Darum geht es nicht. Ich will das Ganze nicht mehr.«
Er bestand auf seiner Meinung: »Sie sind in deine und meine Intimsphäre eingedrungen. Genauso gut könnten sie euer Schlafzimmer stürmen, während du und Frank beim Geschlechtsverkehr … «
»Bestimmt hast du recht. Aber ich will es trotzdem nicht mehr. Ich möchte nicht, dass es Bilder gibt, auf denen ich so zu sehen bin. Das ist nicht mein Stil, das passt nicht zu mir, das … «
Er nickte resigniert und fragte sich: Weiß sie, dass ich es bin? Nutzt sie die letzten Minuten vor meiner Verhaftung, um ihre Bilder zu vernichten, weil sie genau weiß, dass die Illustrierten später dafür Riesensummen zahlen werden? Hat sie Angst, zum Gespött der Öffentlichkeit zu werden? Hängt sie so sehr
an ihrem dämlichen Beruf? Will sie deshalb alles ungeschehen machen? Oder ist sie doch nur die kleine Spießerin, die so gut zu Frank passt?
»Schade«, sagte er. »Ich dachte, du wärst weiter.«
»Weiter?«
»Fühlst du deine eigenen Sehnsüchte wirklich oder nur das, was du fühlen solltest? Willst du nur politisch korrekt sein und … «
Sie stoppte seinen Redefluss: »Auch wenn es dir nicht passt, Heiner,
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