Ostfriesengrab
Glauser zu und hob ab.
Die Stimme am Telefon war freundlich, einschmeichelnd, ja geradezu komplizenhaft. Der Mann flüsterte.
»Ich bin hier bei der Manninga-Burg. Ich habe Ihren Namen und Ihre Telefonnummer von Chantal Jansen. Sie ist hier bei ihrem Freund Kevin Cilonka. Kevin steht offensichtlich unter Einfluss von Drogen. Chantal auch, aber sie hat längst nicht so viel eingepfiffen. Kevin hat versucht, mich auszurauben.«
»Er hat was?«
»Ich jogge hier jeden Abend entlang. Keine Sorgen, das ist ihm nicht gut bekommen. Ich bin Kampfsportler, müssen Sie wissen.«
»Ja, und jetzt?«
»Ich wollte die Polizei rufen, aber die kleine Chantal fleht mich an, weder die Polizei zu rufen noch ihre Eltern. Sie hat mich gebeten, Sie anzurufen. Sie sind doch die Lehrerin, oder?«
»Ja, das bin ich. Bleiben Sie einfach, wo Sie sind. Ich komme sofort.«
Fast hätte er überheblich geantwortet: Das war mir klar, junge Frau. Aber den Satz schluckte er hinunter.
Sie würde mit dem Fahrrad kommen. Das Auto gehörte ihrem Exfreund.
Er zündete sich eine Zigarette an und wartete jetzt geduldig. Wie berechenbar diese jungen Dinger doch sind, dachte er. Natürlich ruft sie nicht die Polizei und auch nicht die Eltern. Sie möchte so gerne gut dastehen vor den Jugendlichen. Wenn sie ihr Foto erst in den Zeitungen sehen, werden sie sie nie wieder vergessen. Egal, wie viele Lehrerinnen sie sonst noch hatten, alle werden, wenn sie an ihre Schulzeit zurückdenken, zuerst sagen: Mich hat übrigens Carolin Haase unterrichtet, die dann später
das dritte Opfer von diesem … Ja, wie würden sie ihn nennen? Genie? Meister? Oder einfach nur Mörder?
Er lächelte. Vielleicht würden sie über ihn wie über einen Irren sprechen. Wie über van Gogh, der sich ein Ohr abgeschnitten hatte und dessen Bilder heute auf jeder Auktion mehrstellige Millionenpreise erzielten.
Carolin Haase legte ihren Roman über das Leben von Glauser offen auf den Tisch. Sie, die Krimiliebhaberin, der das Kino im eigenen Kopf beim Lesen immer besser gefiel als jeder Film im Fernsehen, hoffte, schon bald wieder zu ihrem Buch zurückkehren zu können. Die Glauser-Gesamtausgabe hatte Torsten ihr letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt.
Glauser war so etwas wie der Vater des deutschen Kriminalromans. Acht Jahre seines Lebens hatte er in Psychiatrien verbracht, weil er schon als Jugendlicher morphiumsüchtig geworden war. Sie hatte Mühe, aus dem Roman innerlich auszusteigen. Die Bilder verfolgten sie noch, während sie mit dem Fahrrad in Richtung Manninga-Burg radelte.
Sie sah ihre beiden Schüler nicht. Sie konnte sich gut vorstellen, dass die beiden etwas miteinander hatten. Kevin ließ in der Schule gern den Macho heraushängen, und offensichtlich fuhren ein paar Mädchen darauf ab. Der Junge hatte schon mehrfach disziplinarische Probleme gehabt. Eine heftige Schlägerei auf der Schülertoilette, außerdem waren bei ihm vier Gramm Haschisch gefunden worden, das war allerdings noch, bevor Carolin Haase an die Schule gekommen war.
Sie nahm die Bäume nur als dunkle Schatten wahr. Es kam ihr so vor, als würden die Äste wie Klauen nach dem Mond greifen.
Dann löste sich vor ihr aus der Dunkelheit eine Gestalt. Der Mann winkte sie heran. Sie stieg vom Rad und schob es arglos näher.
»Wo sind die beiden?«, fragte sie. »Ist Kevin in Ordnung?«
Der Mann antwortete nicht. Er packte sie und drückte ihr ein Tuch gegen die Nase. Sie spürte die Haut von seinem Gummihandschuh an ihrer Wange. Dass er solche Handschuhe trug, wie sie sie nur von Ärzten und Krankenschwestern kannte, machte ihr mehr Angst als alles andere.
Sie ließ ihr Fahrrad fallen, strampelte und versuchte, sich zu wehren. Dann atmete sie das stinkige Zeug ein und verlor das Bewusstsein.
Er faltete sorgfältig das Taschentuch mit dem Chloroform, legte es in das Tuppertöpfchen zurück und ließ den Deckel zuschnappen. Sie hing wie leblos in seinen Armen. Er hielt sie so, dass ein harmloser Spaziergänger die beiden für ein Liebespärchen hätte halten können.
Er brachte sie zu seinem Auto, legte sie hinten auf die Sitzbank, schnallte sie sogar an und warf dann eine Wolldecke über sie. Ohne Eile ging er in den Park zurück, schob ihr Fahrrad zu einem Gebüsch und warf es im hohen Bogen hinein.
Im Auto legte er eine CD ein. Mozart. Das Requiem. Gut gelaunt fuhr er los, um sein Werk zu vollenden.
Weller hatte sich so eine Agentur anders vorgestellt. Irgendwie schlüpfriger,
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