Ostfriesengrab
weiter zu befragen. Er wollte ihm nicht noch mehr seelische Schmerzen zufügen. Gleichzeitig ahnte Weller, dass er kurz davor war, wichtige Informationen zu erhalten. Möglicherweise hatte sie genauso ein Geheimnis, das sie schamhaft hütete wie Mareike Henning. Es kam Weller vor, als sei der Name Meuling mit Leuchtschrift an die Wand geschrieben.
Weller ließ sich die Adresse der Schwiegermutter geben und fragte fast beiläufig: »Hat Ihre Frau in letzter Zeit einen kleinen Autounfall gehabt? Oder erinnern Sie sich daran, dass sie beschuldigt wurde, einen Autounfall gehabt zu haben?«
»Was hat das denn damit zu tun?«, fragte Glück zurück. Sein Blick veränderte sich. Für kurze Zeit schien er klarer zu sehen.
Er öffnete den Mund zu einem Staunen. »Warum lässt Gott so etwas zu?«
Als Rupert von der Toilette zurückkam, war er blass um die Nase und hatte fiebrige Augen. Seine Unterlippe hing schlaff herab. Er erinnerte Weller an einen alten Boxer, der in der ersten Runde nach wenigen harten Treffern den Traum vom Comeback begräbt und jetzt nur noch versucht, mit Anstand in die nächste Runde zu kommen.
»Wir sollten nach Cuxhaven, um mit Verena Glücks Mutter zu sprechen«, schlug Weller vor, »aber ich glaube, dich bringe ich vorher nach Hause, Rupert. Du meldest dich jetzt besser wieder krank.«
Rupert schüttelte den Kopf. »Wieso? Hast du Angst, dass ich dich anstecke?«
»Ja, das auch. So ein Virus kann eine ganze SOKO lahmlegen.«
»Nein, Weller. Ich will dabei sein. Ich … «
»Ja, das will Ann auch.«
Ellen Prill war in Cuxhaven bereits informiert worden. Sie wollte mit dem Taxi kommen, um ihre Tochter zu sehen. Aber dann nahm sie zu viele Beruhigungstabletten, und ihr Kreislauf machte schlapp.
Auch wenn es gegen die Vorschriften war, solche Befragungen allein durchzuführen, setzte Weller seinen Kollegen Rupert vorher zu Hause ab. Er musste ihn fast aus dem Auto prügeln, dann fuhr er ohne jede Rücksicht auf Geschwindigkeitsbegrenzungen nach Cuxhaven.
Frau Prill wohnte in Cuxhaven-Döse, ganz in der Nähe vom Kurpark. Sie war Ende vierzig, und Weller konnte sich gut vorstellen, dass sie früher mal eine Punkerin gewesen war oder ein Hippiemädchen. Etwas in ihren Augen verriet ihm, dass sie ein
bewegtes, wildes Leben hinter sich hatte. Die hier war nicht immer so brav gewesen wie jetzt.
Der Kirschbaum-Wohnzimmerschrank, das Schleiflackschlafzimmer und die Nobilia-Küche gehörten jetzt zu ihrem Leben. Aber sie bewegte sich darin, als würde sie nicht hier hingehören, als sei sie es gewohnt, zwischen den Matratzen einer WG zum Kühlschrank zu huschen und sich das letzte Bier aus der Kiste zu holen, während die anderen nach einer harten Fete noch schliefen.
Wie anders als ich wird Verena Glück bei ihr aufgewachsen sein, dachte Weller. Ellen Prill hatte etwas, das sein strenger Vater nie besessen hatte. Eine Gelassenheit, eine innere Weite, die Möglichkeit, auch mal fünfe gerade sein zu lassen.
Sie war ihm sofort sympathisch, und als sie ihm einen Espresso und ein Glas Wasser anbot, steigerte sich sein Gefühl für sie schon fast zur Begeisterung.
Sie war traurig, aber klar. Sie packte sofort alle Geheimnisse aus. Sie zeigte Weller die Fotos, die Peter Kron von Verena gemacht hatte.
»Die hat meine Tochter bei mir aufbewahrt. Sie wollte nicht, dass ihr Mann diese Bilder sieht. Er hätte es nicht verstanden. Er ist sehr katholisch, wissen Sie?«
»Viele Männer hätten ein Problem damit, wenn ihre Frauen solche Fotos … «
»Meine Tochter hat sich als Fotomodell Geld verdient. Sie ist leider nie sehr weit gekommen. Aber ich war immer stolz auf sie. Ich habe ihr beigebracht, sich für ihren Körper nicht zu schämen. Sie ist schon als kleines Kind mit mir in die Sauna gegangen und zum FKK -Strand … Es sind sehr künstlerische Fotos, finden Sie nicht?«
Weller trank das ganze Wasserglas leer und setzte es hart auf den Tisch auf, in der Hoffnung, dass sie ihm noch eins anbieten würde.
Sie verstand seine Geste sofort richtig. »Sie hatten eine lange Fahrt. Ich mache Ihnen auch gerne etwas zu essen.«
»Nein, danke, das geht wirklich zu weit. Aber noch ein Glas Wasser nehme ich gerne. – Ich kann die Qualität dieser Fotos nicht beurteilen. Sie sehen sehr intim aus. Gar nicht gestellt, sondern so, als sei sie im Alltag fotografiert worden.«
»Ja. Das macht den Zauber dieser Bilder aus. Die anderen habe ich nicht aufbewahrt. Sie war in ein paar Katalogen mit Bademoden
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