OstfriesenKiller
das hatte er abgelehnt.
War er der Held an der ostfriesischen Sozialfront oder der cleverste Abzocker aller Zeiten?
Ann Kathrin fühlte sich völlig erschöpft und zerschlagen. Sie wollte Kraft sammeln für den nächsten Tag und klappte die Akten zu.
Sie träumte schlecht in dieser Nacht. Zunächst konnte sie nicht einschlafen, wälzte sich im Wohnzimmer auf der Couch herum, spürte, dass das weiche Sofa ihrem Rücken gar nicht guttat, schob sich noch mehr Kissen in den Nacken und entschied sich trotzdem, nicht ins Schlafzimmer zu gehen. Nein, das konnte sie heute überhaupt nicht ertragen.
Der Mond stand groß am Himmel und blickte durchs Fenster herein. Vollmondnächte hatten sie immer ein bisschen unruhig und nervös gemacht, aber heute war es besonders schlimm.
Sie sah ihren Vater in der Bank, als Geisel der Bankräuber. Mit Isolierband klebte der Geiselgangster den Lauf seiner Waffe an den Hals ihres Vaters. Dann hielt er den Finger am Abzug.
»Nicht schießen! Nicht schießen!« Die Schreie waren so laut, dass sie sich im Schlaf die Hand gegen die Ohren presste. »Nicht schießen!«
Ein Hubschrauber vom Roten Kreuz landete oben auf der Sparkasse.
Ein Pizzaexpress fuhr vor.
Der Schuss in den Hals ihres Vaters.
Der Wagen vom Pizzaexpress explodierte vor der Tür.
Sie sah den Hubschrauber starten.
Als das Sondereinsatzkommando und die Notärzte endlich in der Schalterhalle ankamen, war es für ihren Vater zu spät. Er war verblutet. Der Rot-Kreuz-Hubschrauber hatte ihn nicht mitgenommen.
Ann Kathrin wurde schweißgebadet wach. Sie wollte duschen, aber vorher brauchte sie einen Doornkaat. Wie um ihren Vater zu ehren, lief sie zum Kühlschrank, ohne Licht zu machen. Die Kühlschranklampe reichte völlig aus. Sie zog die grüne Flasche aus dem Eisfach. Ihre Finger blieben fast daran kleben. Neben den Eiswürfeln und einer angebrochenen Packung Blattspinat lagen die weiß gefrorenen Gläser.
Sie füllte ein Glas bis zum Rand. Da ihre Hand ein wenig zitterte, vergoss sie ein paar Tropfen. Einer davon traf ihren nackten rechten Fuß.
Der Schnaps schmeckte ihr heute gar nicht. Irgendwie nach Metall, ein bisschen nach Kupfer. Aber sie wollte dieses Brennen spüren, wenn er im Hals hinunterlief und sich im Magen ausbreitete.
Sie wünschte sich so sehr, die Gespenster der Vergangenheit wegzuspülen, aber das gelang nicht.
»Prost Papa!«, sagte sie, stellte dann das Glas auf dem Kühlschrank ab, knallte die Kühlschranktür heftiger zu als notwendig und ging ins Bad. Sie brauchte jetzt heißes Wasser für den steifen Nacken und um all diese Erinnerungen loszuwerden, die an ihr klebten und versuchten, in sie einzudringen wie Krankheitserreger. Sie stellte sich vor, dass das alles auf ihrer Haut herumwimmelte. Winzige Viren und Bakterien, fürs menschliche Auge nicht wahrnehmbar, aber doch vorhanden, mit einer großen, vergiftenden, krankmachenden Kraft.
Sie duschte, bis die Haut krebsrot war und die Dampfschwaden sich als feuchter Schleier auf den Kacheln und Spiegeln niederließen. Sie nahm zwei große Handtücher, um sich einzuwickeln. Das weiß-braune Saunatuch, das Eike ihr zu Weihnachten geschenkt hatte, und das blaue Badetuch, das so alt war wie Eike und zur Familie gehörte wie das »gute« Suppenservice, das sie zur Hochzeit geschenkt bekommen hatten, das sie aber nur zu Weihnachten und an besonderen Feiertagen benutzten. Es war nicht mal richtig spülmaschinenfest. Der Goldrand verblasste allmählich, und sie hatten sich längst neues, bunteres, viel schöneres, alltagstaugliches Geschirr gekauft, aber niemand konnte sich aufraffen, das Hochzeitsgeschenk wegzuwerfen.
Einem plötzlichen Impuls folgend, öffnete sie die Wohnzimmertür zur Terrasse. Es tat ihr gut, die kalten Fliesen unter den Füßen zu spüren. Dann ging sie über die Grasnarbe bis zur Hecke. Es war ein ganz bewusstes Auftreten. Sie wollte die Grashalme unter den Fußsohlen fühlen. Der Boden war hier immer ein bisschen feucht und leicht salzig.
Ann Kathrin atmete tief durch, roch an den Blüten vom Birnbaum und durchquerte Schritt für Schritt ihren Garten im Schutz der Dunkelheit, immer ganz nah an der Hecke entlang. Irgendwo weit weg spielte jemand Trompete. In diesem flachen Land hinderte nichts die Töne am freien Flug.
Sie meinte, in der Ferne den Zug zu hören. Wahrscheinlich noch zwei, drei Kilometer weit weg, doch die Gleise vibrierten bereits metallen in der Nacht.
Der Wind kam vom Meer her und kühlte ihre heiße
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