OstfriesenKiller
und berührte die einzelnen CD s mit den Fingerkuppen, als könne sie so die Aufschrift lesen. Sie legte aber keine CD ein. Sie konnte sich für keine Musik entscheiden. Sie hatte Angst, jeder Song würde sie an Hero und Eike erinnern.
Sie fürchtete, von ihren Emotionen weggerissen zu werden, wollte ihnen nicht einfach ausgeliefert sein. Trotzdem zog sie ein altes Fotoalbum hervor, setzte sich in den Ohrensessel und blätterte darin. Ihre Schultern waren hart wie Stein, und wenn sie den Blick nur ein bisschen nach unten senkte, schmerzte ihr Nacken bis in die Haarwurzeln.
Mit dem Fuß berührte sie den Kippschalter der Leselampe. Das Licht zirkelte ein Stückchen des Raumes ab. In dieser sicheren Ecke wollte sie bleiben.
Es waren Fotos aus glücklichen Tagen mit dem kleinen Eike.
Hero und Eike, wie sie einen Schneemann bauten.
Dann eine Sandburg.
Hero und Eike am Meer.
Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie auf diesen Fotos gar nicht zu sehen war. Hatte sie all diese Bilder gemacht, oder war sie gar nicht dabei gewesen?
Sie legte das Fotoalbum auf den Tisch und massierte sich den Nacken. Dadurch wurde der Schmerz aber nur noch brennender. Es tat ihr nicht gut, in diesem Album zu blättern. Sie beschloss, sich wieder ihrer Arbeit zu widmen.
Sie hatte sich Akten mit nach Hause genommen. Eine davon legte sie auf das Fotoalbum und öffnete sie.
Die meisten Klienten vom Regenbogen-Verein waren arm und für den Rest ihres Lebens auf Sozialhilfe angewiesen. Nur sechs Betreute waren sogenannte Selbstzahler. Für die anderen schrieb der Regenbogen-Verein Rechnungen an Sozialämter und Krankenkassen.
Von den sechsen kamen drei aus Familien, die gerade so die finanzielle Obergrenze erreicht hatten und nun für ihre Angehörigen aufkommen mussten. Sie versuchten, mit ständigen Eingaben und Neuberechnungen aus der Zahlungspflicht herauszukommen.
Drei galten als wirklich reich. Sylvia Kleine, Rainer Kohlhammer und Inga Traumin. Bei Rainer Kohlhammer und Inga Traumin stritten sich die Verwandten mit dem Verein um die Vermögensfürsorge. Sylvia Kleine hatte keine lebenden Verwandten mehr.
Könnte das der Grund für zwei Morde sein? Ging es darum, ein großes Vermögen in den Griff zu bekommen?
Im Fall von Rainer Kohlhammer und Inga Traumin wäre es für die habgierigen Verwandten sicherlich viel sinnvoller gewesen, ihre Angehörigen direkt umzubringen statt Ulf Speicher, denn durch die normale gesetzliche Erbfolge wären sie sowieso wieder in den Vollbesitz des Vermögens gekommen.
Ann Kathrin fand Briefe von Ulf Speicher an die Eltern seiner Schützlinge. Man konnte diese Briefe auf zwei Arten lesen. Entweder er versuchte, die Verwandten einzulullen, um ihnen das Geld aus der Tasche zu ziehen, oder aber er handelte wirklich im Interesse der Behinderten. Den Brief an die Großeltern von Sylvia Kleine fand sie sehr klar und schlüssig. Er hatte ihnen ihre rechtliche Situation klargemacht. Sylvia würde für den Rest ihres Lebens Betreuung brauchen. So eine Betreuung müsste natürlich bezahlt werden. Das Sozialamt würde sich das Vermögen holen und es würde für die Betreuung draufgehen, die das Sozialamt sonst ohnehin zahlen müsste. Stattdessen schlug er den Großeltern vor, ihr Vermögen in eine Stiftung einzuzahlen, die betreute Arbeitsplätze für Behinderte schaffte. Er hatte diese Stiftung bereits gegründet. Die Stiftung würde ihrerseits die Verpflichtung übernehmen, für Sylvia Kleine und Menschen mit ähnlicher Behinderung Arbeitsplätze, Wohn- und Betreuungsmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen.
Er wollte zwei Hotels bauen, die von gut ausgebildetem Personal und Behinderten gleichermaßen geführt werden sollten. Er wies auf ähnliche Projekte hin, die woanders bereits sehr erfolgreich liefen, zum Beispiel das Domhotel in St. Gallen. Es gab sogar schon Baupläne für die Hotels. Das auf Norderney sollte sechzig Betten haben und das in Norddeich zweiundvierzig Betten. Eine eigene Bäckerei, zwei Restaurants – der Mann plante ein Imperium.
Ann Kathrin blätterte weiter und fand einen Brief der Familie Rosenbohm. Sie vermachten der Organisation ihr Einfamilienhaus und verschafften damit ihrem Downkind einen Arbeitsplatz in der Bäckerei. Das Haus würde nach ihrem Tod sowieso unter den Hammer kommen, schrieben sie. Sie vertrauten nach ihrem Tod ihren Sohn und ihr ganzes Vermögen dem Regenbogen-Verein an. Am liebsten hätten sie es Ulf Speicher persönlich übertragen, weil sie ihn integer fanden, aber
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