OstfriesenKiller
heraus.
Nummer Drei.
Lioba Winter war es gewöhnt zu warten. Wenn ihr Mann im Regenborgen-Verein war, kam er oft erst nach Mitternacht nach Hause zurück. Sie hatte diese ehrenamtliche Tätigkeit immer akzeptiert. Am Anfang ihrer Ehe glaubte sie, Paul büße dort sein schlechtes Gewissen ab, weil er sich schuldig dafür fühlte, einen geistig behinderten Bruder zu haben, während er selbst, mit einem perfekten Gehör ausgestattet, ein begnadeter Musiker war. Einige seiner Kompositionen hatte das Amt für Kirchenmusik sogar angekauft. In zahlreichen Gemeinden wurden seine Songs im Jugendgottesdienst gesungen. Der Behinderte und der Hochbegabte – welch eine explosive Mischung in einer Familie.
Aber dann hatte sie begriffen, dass da noch etwas anderes war. Die Arbeit dort machte ihm einfach Spaß. Sie selbst hatte ihn auf mehreren Freizeiten begleitet, und manchmal hatte sie das Gefühl, die geistig behinderten Menschen hätten ihr sogar etwas voraus, ja, man könne noch etwas von ihnen lernen. Wenn sie nicht in völligem geistigem Dunkel versanken oder sich autistisch von der Außenwelt abschotteten, waren es oft ansteckend fröhliche und freundliche Menschen. Selten hatte sie so viel gelacht wie bei Behindertenfreizeiten.
Jenny hatte sich am Anfang ein wenig gefürchtet, wenn sie mit dabei war. Tobias dagegen fand es prima. Er spielte gern mit den Regenbogenkindern Fußball. Hier fühlte er sich immer als Held, war von vornherein etwas Besonderes. Der bewunderte Gewinner. Ganz einfach deshalb, weil er keine Behinderung hatte.
Aber heute Nacht hätte Lioba ihren Paul gern bei sich gehabt. Nach dem gewaltsamen Tod von Ulf Speicher und Kai Uphoff fühlte sie sich nicht mehr sicher. Es lag ein Schatten über dem Ganzen. Sie wollte auf keinen Fall ins Bett gehen, bevor Paul wieder zu Hause war. Sie setzte sich ins Wohnzimmer, in ihren Lieblingssessel, blätterte zunächst nervös in einer Illustrierten, dann suchte sie Ruhe bei einem ihrer Lieblingsautoren. Sie hatte die Bücher von Izzo im Urlaub in Frankreich gelesen. Jetzt legte sie sich die erste CD
Aldebaran
, gesprochen von Dietmar Mues, auf. Sie hoffte, von der Stimme und dem Text langsam entführt zu werden nach Marseille in Izzos Welt, die sie so sehr liebte. Sie hatte dieses Hörbuch schon zweimal mit Paul zusammen angehört. Es war ein Weihnachtsgeschenk gewesen. Eins, über das sie sich wirklich gefreut hatte.
Aber diesmal trug Dietmar Mues’ Stimme sie nicht heraus aus diesem Haus in den Hafen, zu den Verlierern, in das vibrierende Leben der Bars am Hafen. Stattdessen wälzte sie im Kopf Theorien hin und her. War Ulf Speicher umgebracht worden, weil er der Vorsitzende vom Regenbogen-Verein war? Und würde ihr Mann nun für den Vorstand kandidieren? Es gab viele im Verein, die ihren Paul sehr mochten. Durch seine ehrenamtliche Mitarbeit hatte er sich eine Menge Freunde gemacht. Man wusste um seine Beharrlichkeit und seine Ernsthaftigkeit. Sicherlich hatten alle Angst, dass Jutta Breuer den Verein jetzt völlig in die Hand bekommen würde. Keine Frage, bis zur Beerdigung musste gewartet werden. Aber dann würde es eine Vollversammlung geben. Die betroffenen Angehörigen, die Mitarbeiter – sie mussten einen neuen Vorsitzenden wählen. Aber auch, wenn Paul viel von seiner Freizeit investierte, das konnte man nicht mehr nebenher bewältigen. Er müsste seine große Liebe, die Musik, zur Nebensache erklären und sich vollständig dem Verein widmen. Sie wusste, dass er sich mit diesem Gedanken herumschlug. Und sie fürchtete, dass er dann selbst zur Zielscheibe werden könnte.
Während Lioba Winter mit diesen Gedanken dasaß und sich nicht auf
Aldebaran
konzentrieren konnte, verlor ihr Mann das Bewusstsein.
Ann Kathrin Klaasen schlich, ohne das Licht anzumachen, durch ihr Haus, als ob sie fremd dort wäre. Wie eine Einbrecherin, die Angst hatte, erwischt zu werden. Sie warf sich aufs Sofa, stand sofort wieder auf, ging in die Küche, von dort ins Bad, mied das Schlafzimmer. Sie suchte einen Platz, wo sie sich niederlassen konnte. Irgendeinen Punkt, von dem aus sie dieses Haus langsam wieder in Besitz nehmen konnte.
Was machen andere Leute, wenn sie nach Hause kommen, fragte sie sich. Kochen die sich einen Kaffee? Was zu essen? Der Gedanke erschien ihr absurd. Sie konnte doch jetzt nicht in der Küche stehen, Gemüse putzen und Fleisch klein schneiden, nur für sich allein. Nein. Das war nun wirklich nicht ihr Ding. Sie ging zum CD -Spieler
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