Ostfriesenmoor: Der siebte Fall für Ann Kathrin Klaasen (German Edition)
Fingerkuppen der rechten Hand abgeklebt. Sie entschied sich jetzt, rechts einfach einen weißen Handschuh anzuziehen, damit Benne nicht sofort ihre abgekauten Nägel sah. Das hatte immerhin noch ein bisschen was von Michael Jackson an sich, fand sie.
Zunächst bemerkte sie das Fehlen von Ina gar nicht. Sie war einfach nur froh, dass der kleine Quälgeist den Mund hielt und nicht herumschrie. Aber dann wusste sie plötzlich, dass Ina nicht mehr in ihrem Bettchen lag, so wie sie in der Schule manchmal wusste, dass sie drankam, noch lange bevor der Lehrer sie aufrief.
Das passierte nur, wenn sie keine Ahnung hatte und die Frage garantiert nicht beantworten konnte. Das Wissen kam aus dem Magen heraus und traf sie dort wie ein Faustschlag, der sich mit einem warmen, fast wohltuenden Kribbeln ankündigte, dann aber umso heftiger wurde.
Sie rannte zum Bettchen, und tatsächlich … Sie befühlte die Decke. Dort, wo Inas Kopf gelegen hatte, war die Kuscheldecke noch feucht, weil der Kleinen wieder der Sabber aus dem Mund gelaufen war.
Für einen Moment glaubte Lucy, das alles könne doch nicht wahr sein. War sie in einen Alptraum gefallen? Waren das die Nachwirkungen vom Cannabis? Hatte sie das, was man einen Flashback nannte?
Sie hatte so etwas nie erlebt, kannte es aber aus den Berichten von Freunden, dass sie plötzlich, am anderen Tag, noch einmal völlig zugedröhnt waren oder Halluzinationen hatten, als würde ein Trip reaktiviert werden. Niemand hatte so etwas von Haschisch erzählt, wohl aber von diesen kleinen Pillen, Yellow Sunshine und White Lady. Sie hatte so etwas nie genommen. Jetzt bedauerte sie es fast, denn dann hätte sie es auf die Droge schieben können. Doch nun musste sie erkennen, dass es Wirklichkeit war. Die schnöde, grausame Wirklichkeit.
Etwas in ihr schrie um Hilfe. Sollte sie die Polizei rufen? Ihre Mutter? Thomas Schacht? Nein, den garantiert nicht, wenn überhaupt, dann Wolfgang. Doch sie wollte nichts von all dem. Alles kam ihr nur schlimm vor. Wer würde ihr glauben? Für alle wäre sie die Schuldige.
Sie sah sich schon auf einer mittelalterlichen Anklagebank. Schacht – in schwarzer Kutte – würde ihr mit glühenden Haken die letzten Reste ihrer Fingernägel herausreißen, »damit du nie wieder kaust und mich nie wieder anlügst!«.
Sie rief Inas Namen, sie suchte das Kind in der Wohnung, sie kniete sich auf den Boden und sah unter dem Sofa nach. Natürlich wusste sie, dass ein vier Monate altes Baby nicht aus dem Bettchen krabbeln und sich in der Wohnung verstecken konnte. Aber es war eine irre letzte Hoffnung darauf, der schlimmsten Verdammnis entgehen zu können.
Und dann entschied sie sich für die Flucht. Sie zog sich an und packte den kleinen Rucksack, der für Wanderungen vorgesehen war.
Gundula nahm nie alles Geld mit aus dem Haus, das Portemonnaie mit der Haushaltskasse lag versteckt zwischen der Unterwäsche im Schlafzimmerschrank der Ferienwohnung.
Lucy fand die Geldbörse sofort. Sie nahm nicht alles, so gemein wollte sie nicht sein. Aber einen grünen Hunderteuroschein, einen Fünfziger und einen Zwanziger steckte sie sich ein. Ihr Handy nahm sie nicht mit. Schließlich sollte Gundula eine Möglichkeit haben, mit dem Entführer zu sprechen. Er hatte doch nur diese Nummer.
Als sie nach draußen trat, hatte der ostfriesische Wind die dunklen Regenwolken vertrieben, und die Sonne wärmte das Wasser in den Pfützen.
Um Thomas Schacht nicht zu begegnen, lief sie hinten herum, beim Ocean Wave durch den Park. Als sie am Deich ankam, sah sie einen Regenbogen in solch klarer, leuchtender Farbenpracht, dass sie sich vorstellte, man könne hineinlaufen und in ihm hochklettern, und dann sei alles gut. Der Regenbogen verband die Inseln Juist und Norderney wie eine bunte Brücke.
»Benne!«, schrie sie, »Benne!«
Sie hatte die Hoffnung, hier oben vom Deichkamm, der höchsten Erhebung müsse sie so weit ins Land rufen können, dass er eine Chance hatte, sie zu hören.
»Benne! Benne!«
Doch es kam keine Antwort.
Sie sah links neben sich hunderte Schafe, und die blökten jetzt, als hätten sie ihr etwas zu sagen. Sie lief in die Schafherde hinein. Die Tiere flüchteten vor ihr. Sie suchte den Boden ab, aber auch hier fand sie ihre kleine Schwester nicht.
Weller liebte Kriminalromane, und es verging kaum eine Woche, ohne dass er einen neuen las oder zumindest kaufte. Er mochte es an Ann Kathrin, dass sie ihn nicht blöd anmachte, wenn er versunken über einem Buch in
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