Ostfriesenmoor: Der siebte Fall für Ann Kathrin Klaasen (German Edition)
erfrischender Wind in die Stadt wehte.
Sie wurde jetzt sehr an ihre Kölner Zeit erinnert, und auch der Kopfschmerz war wieder da. Sie beschloss, nach Hause zu fahren und sich im Distelkamp ein bisschen hinzulegen und auszuruhen.
Leider machte sie den Fehler, den Briefkasten zu öffnen. Der Brief von der Krankenkasse hatte für sie die Ausstrahlungskraft einer schlechten Nachricht. Ja, sie spürte so etwas manchmal. Dinge trugen eine Energie. Nicht immer, aber an Tagen wie diesen, nahm sie es wahr.
Sie riss den Brief mit den Fingernägeln auf und las ihn, während sie die Wohnung betrat.
Sehr geehrte Frau Klaasen,
Sie haben für Ihre Mutter Pflegesachleistungen beantragt. Pflegebedürftig sind Personen, wenn sie aufgrund einer Krankheit oder Behinderung dauerhaft in erheblichem Maße Hilfe bei den Verrichtungen des täglichen Lebens aus den Bereichen Körperpflege, Ernährung oder Mobilität benötigen.
Zur Beurteilung ihrer Pflegebedürftigkeit haben wir den Medizinischen Dienst der Krankenversicherungen (MDK) eingeschaltet.
In seinem Gutachten stellt der Medizinische Dienst fest, dass die Voraussetzung zur Bewilligung von Leistungen nach der Pflegestufe I nicht vorliegt. Der für die Pflegestufe I erforderliche Hilfsbedarf von 90 Minuten täglich – davon mindestens 46 Minuten in der Grundpflege – wird nicht erreicht. Daher müssen wir Ihren Antrag auf Pflegeleistungen leider ablehnen.
Sie haben die Möglichkeit, gegen die in diesem Bescheid getroffene Entscheidung innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe Widerspruch zu erheben.
Mit freundlichen Grüßen
Dieses Schreiben wurde maschinell erstellt und ist daher ohne Unterschrift gültig.
Die Entscheidung wurde nach Aktenlage getroffen.
Ihre Hand mit dem Brief fiel herunter, als ob sie nicht zu ihr gehören würde, und baumelte jetzt an ihrem Arm. Die Finger hielten den Brief aber weiter fest.
Spinnen die jetzt alle?, fragte Ann Kathrin sich. Ist die ganze Welt verrückt geworden?
Ihre Empörung über die Entscheidung nach Aktenlage war noch größer als ihr Kopfschmerz. Sie hängte sich ans Telefon und versuchte, einen Verantwortlichen zu sprechen. Denn auch wenn ein Schreiben maschinell erstellt und ohne Unterschrift gültig war, musste es doch irgendjemanden geben, der dafür die Verantwortung trug.
Aber da sie außerhalb der Geschäftszeiten anrief, wurde sie nur von einer Stimme mit metallischem Klang vertröstet.
Sie holte sich ein Glas Leitungswasser und ließ sich dann im Wohnzimmer auf die Couch fallen.
Vielleicht sollten wir das auch mal einführen, dachte sie. Heute können Sie Ihr Verbrechen leider nicht begehen, die Kriminalpolizei hat schon geschlossen.
Nein, tut uns leid, Sie rufen außerhalb der Bürozeiten an.
Dumm gelaufen, wenn Sie zu so einem schlechten Zeitpunkt überfallen worden sind. Können Sie das nicht in Zukunft während unserer Bürozeit erledigen?
Sie sah zur Decke und entdeckte eine Fliege, die sich im Spinnennetz verfangen hatte. Die Fliege lebte noch. Für einen Moment spürte Ann Kathrin den Impuls, einzugreifen und die Fliege zu befreien. Irgendwie wurde sie ja gerade Zeuge eines Verbrechens, oder war das da oben nur der natürliche Verlauf der Dinge?
Sie blieb liegen, trank ihr Wasser, massierte sich die Schläfen und dachte voller Wut über die Worte »Entscheidung nach Aktenlage« nach. Dabei wurde ihr Kopfschmerz schlimmer.
Sie hielt es auf dem Sofa nicht aus, ging in ihr Arbeitszimmer, setzte sich an den Computer und hackte eine E-Mail an die Krankenkasse und den Medizinischen Dienst in die Tasten. Mit ihren Worten bewegte sie sich am Rande einer Beleidigungsklage, das war ihr schon klar, aber den Prozess stellte sie sich brüllend komisch vor und war bereit, ihn zu riskieren.
In Steuerangelegenheiten kann man vielleicht nach Aktenlage entscheiden, schrieb sie, aber keineswegs, wenn es um Menschen geht, die muss man sich angucken.
Sie schrieb, dass sie den Brief als eine gelungene Satire über den neuen, kalten Wind, der durchs Land wehte, werte, aber keineswegs als ernst gemeinten Beitrag zur Klärung eines Problems. Sie unterschrieb auch nicht »mit freundlichen Grüßen«, sondern: »zornig, Ihre Ann Kathrin Klaasen«.
Bevor sie die Mail abschickte, korrigierte sie noch einmal: »Zornig, ganz sicherlich nicht Ihre Ann Kathrin Klaasen«.
Dem Anfang, »Sehr geehrte Damen und Herren«, fügte sie noch eine Klammer hinzu: »(man kann ja mal lügen)«.
Sie schickte die E-Mail ab,
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