Ostfriesenmoor: Der siebte Fall für Ann Kathrin Klaasen (German Edition)
den erhobenen Stinkefinger, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Ubbo Heide antwortete erst, als er sicher war, dass Scherer ihn nicht mehr hören konnte: »Und das Schlimmste ist, Ann, ich fürchte, er hat recht.«
»Trotzdem«, sagte sie trotzig wie ein Kind. »So geht es einfach nicht … So nicht.«
Sie streichelte über Lucys Haut. Es tat ihr weh, sie so zu sehen, an all diesen Schläuchen, in ihrem Leid.
»Mach dir keine Sorgen, Liebes«, flüsterte sie ganz nah an Lucys Ohr.
Eine Flüssigkeit blubberte, und aus einem Schlauch wurde ein weißer Schwaden in die Nähe von Lucys Gesicht geblasen.
All diese sinnlosen Versuche, das bisschen Leben zu erhalten und das Leiden zu verlängern, kamen ihr so erbärmlich vor.
»Ich werde dich erlösen«, sagte sie. »Du wirst wunderschön werden und nicht mehr altern. Du wirst bei deinen Geschwistern sein, und wir werden uns nie wieder trennen. Am liebsten würde ich dich jetzt sofort mitnehmen. Sie haben Rollstühle im Flur. Wir könnten es damit versuchen. Dann musst du mir aber helfen …«
Die ganze Situation hier im Krankenhaus war eine Bestätigung für sie. All dieses Leid. Blut. Schmutz. Sie brauchten so grässlich viel Desinfektionsmittel, um damit fertig zu werden. Und sie kämpften doch an gegen etwas, das nicht zu verhindern war. Störrisch weigerten sich die Menschen, sich in ihr Schicksal zu fügen, und so produzierten sie immer noch mehr Leid.
Ein Pfleger, der aussah, als sei er als Anführer einer Wikingermeute soeben erst an Land gekommen und wolle nun, bereit, zu brandschatzen und zu plündern, Beute machen, betrat den Raum. Aber er hielt kein Schwert in der Hand, er brachte nur eine neue Infusion.
»Darf ich Sie bitten, einen Moment draußen zu warten?«, sagte er mit einer Stimme, die so sanft und höflich war, dass sie überhaupt nicht zu seinem Aussehen passte.
Für einen Moment sah sie in ihm nicht den Pfleger, sondern den Wikinger.
Wenn du auch nur versuchst, mich anzufassen, dachte sie, wirst du es schwer bereuen.
Sie formte Zeige- und Mittelfinger ihrer rechten Hand zu einem Victory-Zeichen. Sie war bereit, ihm mit einem kurzen Stoß beide Augen auszustechen.
Und wenn du dann versuchst zu schreien, dachte sie, werde ich dir den Kehlkopf rausreißen. Es ist ganz einfach. Du hast dort keine Muskulatur. Der Kehlkopf ist völlig ungeschützt. Die Menschen sind so verletzlich …
»Ich brauche nur ein paar Minuten«, sagte er zu ihr, und weil er ihr Platz machte, höflich war und sie nicht berührte, schenkte sie ihm das Leben.
Sie verließ das Krankenhaus mit dem Gefühl, äußerst großzügig gewesen zu sein. Sie war nicht immer so. Aber heute war ein guter Tag. Sie fühlte sich leicht und beschwingt. Es war die Vorfreude auf die Verwandlung der Babys.
Sie stieg ins Auto, atmete tief durch und fuhr nach Warsingsfehn zurück.
Rupert hatte sich die Chefsekretärin eines berühmten Architekten anders vorgestellt. Er hatte eine Art Heidi-Klum-Model erwartet, eine halb verhungerte junge Frau mit langen Beinen, großen Augen und einem riesigen Mund, den sie leider nur sehr selten zum Essen benutzen durfte.
Stattdessen saß dort ein lustbetontes Pummelchen, das sich in seiner Haut sehr wohl fühlte und kein Problem damit hatte, bei dem Wetter in einer Art Strandkleid am Computer zu sitzen. Ihre Frisur erinnerte ihn an Pumuckl. Sie war gerade fünfzig geworden und hatte das Gefühl, in der besten Phase ihres Lebens zu stecken.
Ruperts Auftritt flößte ihr Respekt ein. Sie mochte diese tendenziell grenzüberschreitende Art. Sie wusste, dass solche Männer nicht gut für sie waren, doch sie hatte sie immer schon interessant gefunden. Geheiratet hatte sie dann einen braven Frauenversteher, und mit dem war sie auch glücklich. Trotzdem knisterte es sofort zwischen ihr und Rupert, als er den Raum betrat.
Sie liebte Krimis. Einer lag aufgeschlagen neben ihrer Tastatur. »Krähenblut« von Micha Krämer.
Bald werde ich mit meinem Buch über diesen Fall kommen, dachte Rupert. Dann zeig ich euch allen, wie sowas läuft. Ihr Krimischreiber phantasiert doch nur immer was zusammen. Aber ich, ich kenne die Wirklichkeit.
»Sie sind von der Mordkommission? Interessanter Beruf«, sagte sie, und geschmeichelt antwortete Rupert, während er sich die Haare aus der Stirn strich: »Ach, das stellt man sich viel aufregender vor, als es ist.«
»Und was wollen Sie dann von Herrn Renken?«
»Das würde ich ihm schon gerne selber sagen. Ich komme, um ihn
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