Ostfriesenmoor: Der siebte Fall für Ann Kathrin Klaasen (German Edition)
ist wie Paris? Ja, da staunen Sie, was? Hier wohnen bloß weniger Menschen. Wir haben nicht so viel Verkehr, und die Wohnungen sind billiger, oder sagen wir, preiswerter.«
»Und deshalb leben Sie jetzt hier?«
»Nein. Ich habe in der Therapie zu Gott gefunden. Oder ich … ich sollte vielleicht besser sagen: Gott war mein Therapeut.«
Rupert gefiel die salbungsvolle Stimme nicht. Er war auf der Suche nach einem schlimmen Verbrecher, der ein Kind ausgestopft hatte. Bekehrt werden wollte er nicht.
»Haben Sie es nicht eine Nummer kleiner?«
Freytag lächelte milde. Er sang seine Sätze fast:
»Ich mag diese Fehn. Im 16. Jahrhundert haben Mönche versucht, das Meer zu bändigen. Die Johanniter. Sie wollten Torf abbauen, aber sie sind gescheitert.«
Jetzt hob er die Hände wie zum Gebet und zitierte: »Den Eersten sien Dod, den Tweeten sien Not, den Drütten sien Brod.«
»Ich bin Ostfriese. Ich kenne all diese Sprüche. Erzählen Sie mir lieber, wann Sie Ihre Tochter zum letzten Mal gesehen haben.«
»Jule?«
»Gibt es mehrere?«
»Nein, nur die eine. Soviel ich weiß.«
»Dann werde ich vermutlich genau die meinen.«
Der Mann verlor seine buddhistische Gelassenheit. Die Nervosität war ihm anzumerken. Er begann Holz zu stapeln. Eine klassische Übersprunghandlung.
»Sie werden doch wissen, wann Sie Ihre Tochter zum letzten Mal gesehen haben!?«
»Ich weiß nicht genau. Sie war klein. Vielleicht acht oder zehn …«
Rupert wiederholte das grimmig. »Acht oder zehn. Sehr genaue Angabe.« Dann pöbelte Rupert los: »Und hören Sie auf, diese Scheiß-Bretter herumzuräumen!«
Freytag ließ alles fallen. Feiner Holzstaub wirbelte auf.
Rupert vermied es, zu atmen. Solange er konnte, hielt er die Luft an.
»Herrjeh, ich war ein Junkie! Ich war süchtig nach diesem Gift. Die Sucht war eine Station auf meiner spirituellen Suche …«
Rupert wollte sich das nicht anhören. Ann Kathrin hätte Freytag jetzt vermutlich endlos über Spiritualität, Drogen und Gott philosophieren lassen, das wusste Rupert genau, aber er hatte keine Lust, sich zusülzen zu lassen.
»Ich brauche etwas von Ihrer Tochter für eine DNA-Analyse.«
Freytag sah ihn fragend an. »Heißt das, Sie haben eine Leiche gefunden und fragen sich jetzt, ob es sich um …«
»Ja, genau das heißt es.«
Der Holzstaub sorgte für einen kratzigen Hals. Rupert hoffte, dass dieses Gespräch hier ihm nicht das Vorsingen im Norddeicher Shantychor vermasselte. Einen rauen Hals konnte er sich nicht leisten.
Mit einer Geste, die seine Unschuld unterstreichen sollte, sagte Freytag: »Woher soll ich DNA meiner Tochter haben?«
»Oh, so etwas findet sich immer. Ein Fotoalbum mit Bildern der süßen Kleinen, daneben eine Haarlocke … Der erste Milchzahn, der ausfiel … Selbst alte Schnuller können helfen.«
Freytag drehte Rupert den Rücken zu. »Junkies kleben keine Fotos in Alben. Sie sammeln keine Andenken. Sie sind mit sich und ihrer Sucht beschäftigt.«
Rupert musste aus diesem Raum heraus. Er hatte das Gefühl, hier kaum noch Luft zu bekommen, und das lag nicht nur an dem Holzstaub.
»Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht helfen kann, Herr Kommissar. Soll ich Sie vielleicht zur Tür begleiten?«
»Für einen Vater, dessen Tochter möglicherweise tot aufgefunden wurde, machen Sie nicht gerade einen erschütterten Eindruck auf mich«, zischte Rupert. Dann musste er niesen.
»Lassen Sie uns rausgehen. Sie verstehen das nicht. Sie waren nie süchtig, oder?«
»Nein, auch wenn ich Ihrer Meinung nach so aussehe, das ist mir erspart geblieben, Susi!«
»Sehen Sie, so ein Zwillingspärchen, das war einfach zu viel. Das ist schon für normale Menschen eine große Belastung, aber für zwei süchtige Menschen …«
Er führte Rupert durch den dunklen Flur zurück nach draußen.
»Haben Sie gerade gesagt, Zwillingspärchen? Ich dachte, Sie haben nur die Jule als Tochter? Dass sie einen Zwilling hat, wusste ich nicht.«
»Ihre Schwester habe ich ja auch nie zu Gesicht bekommen. Meine Frau war schon vor der Geburt abhängig. Das ist an den Zwillingen nicht spurlos vorübergegangen. Jule war ja noch ganz fit, aber ihre Schwester haben wir erst gar nicht aus dem Krankenhaus herausbekommen. Irgendjemand sagte, sie sei mit einem Entzug geboren worden … So, wie ich damals drauf war, habe ich sogar einen Weg gesucht, in die Neugeborenenstation zu kommen, um der Kleinen einen Schuss zu geben. Ich dachte, sie braucht ihn dringend. Man hat mich
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