Ostfriesenmoor: Der siebte Fall für Ann Kathrin Klaasen (German Edition)
Fotografien von Leuchttürmen. All die Bildbände von Martin Stromann und Holger Bloem. Das würde ihr den Umzug ein bisschen erleichtern. Zumindest ihre geliebten Bilder sollte sie an den Wänden haben.
Ann Kathrin beschloss, ihr einen Ostfriesland-Kalender ins Krankenhaus zu bringen. Wenn man Erinnerungslücken und Sprachfindungsschwierigkeiten hat, dachte sie, dann ist doch so etwas total wichtig.
Sie erwischte sich dabei, Lucy nicht länger zugehört zu haben. Das Kind weinte, wie ihrer Erfahrung nach nur Kinder weinen konnten. Für ihr Alter war sie noch klein, körperlich zierlich. Innerlich zuckte Ann Kathrin ein bisschen zusammen. Sie verglich Lucy mit der Moorleiche. Ann Kathrin wollte das nicht. Die Fälle hatten nichts miteinander zu tun. Innerlich legte sie die Moorleiche jetzt in einer Schublade ab und schloss sie, um sich wieder Lucy widmen zu können.
Das Kind liebte und hasste die Zwillinge zugleich. Ein Verdacht baute sich in Ann Kathrin auf. Kinder, die sich ungeliebt fühlten, waren zu vielem fähig.
Hoffentlich tue ich dir nicht schrecklich Unrecht, Kind, dachte sie, aber sie musste die Spur verfolgen.
»Ich werde dich jetzt etwas fragen. Schau mich an«, sagte Ann Kathrin. »Bitte guck mir in die Augen. Wenn du mir jetzt die Wahrheit sagst, kann das völlig unter uns bleiben.«
Lucy bemühte sich, Ann Kathrin anzusehen. Ihre Augen waren wässrig und voller Tränen. Die Pupillen geweitet. So verzweifelt hatten manche Drogensüchtige nicht ausgesehen, die hier auf dem Stuhl um den nächsten Schuss gebettelt hatten.
»Weißt du, wo Tina ist?«
Lucy schien Ann Kathrin gar nicht zu verstehen, deshalb wiederholte sie ihre Frage: »Weißt du, wo Tina ist? Wenn du es weißt, dann sag es mir. Wir fahren hin und holen das Kind. Niemand muss erfahren, dass du etwas damit zu tun hast … Niemand muss erfahren, dass du es mir verraten hast …«
Ann Kathrin wusste, dass sie sich damit juristisch auf gefährlichem Terrain befand. Doch zunächst war das Wohl des entführten Kindes für sie wichtiger als alles andere. Wenn sie jetzt Versprechungen machte, die sich später vielleicht nicht halten ließen, das Baby damit aber aus einer schwierigen Lage befreien konnte, so war das für sie selbst moralisch völlig gerechtfertigt.
Sie stellte sich vor, dass das Kind irgendwo unversorgt lag. In einem Keller, in einer Garage. Falls die Kleine es selbst hatte verschwinden lassen, konnte es nicht weit von der Schwanen-Apotheke entfernt sein. Es sei denn, sie hatte einen Helfer.
Erfahrungsgemäß fiel es Jugendlichen leichter, Helfershelfer zu bekommen als Erwachsenen. Auch in verrückten Situationen, die gegen jeden normalen Menschenverstand verstießen, fanden Jugendliche Komplizen, hielten zusammen gegen die Erwachsenenwelt, verrieten sich gegenseitig nicht. Zumindest nicht, bis die Polizei kam.
Vielleicht, dachte Ann Kathrin, hat sie hier einen Jungen kennengelernt, und der hilft ihr dabei, diesen kleinen Streich zu spielen.
Sie hatte das Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein und hoffte, dass sich der Fall in Kürze in Wohlgefallen auflösen würde.
»Was haben Sie denn geraucht? Sie denken, ich habe meine kleine Schwester entführt?«
»Ich rauche gar nicht«, stellte Ann Kathrin klar. »Weder Legales noch Illegales. Und wie ist es mit dir?«
Lucy kaute auf der Unterlippe herum. »Ich hab einen Zeugen, dass ich das nicht war. Ich hab mich gegenüber in der Eisdiele mit einem Jungen unterhalten.«
»Darf ich seinen Namen haben?«
Ann Kathrin fragte sich, ob Lucy gerade ihren Komplizen verriet oder wirklich einen Zeugen nannte, der sie entlasten konnte.
»Benne.«
Ann Kathrin wiederholte den Namen. »Benne. Und wie weiter?«
Lucy zuckte mit den Schultern. »So’n Blonder. Aus Saarbrücken. Ich hab ihn in der Eisdiele kennengelernt. Wir wollten heute Abend zum Drachenstrand, zu einer kleinen Beachparty.«
»Kann ich dich einen Moment allein lassen?«, fragte Ann Kathrin.
Lucy nickte.
Ann Kathrin ging rüber zu Weller und Ubbo Heide, um ihnen die Information zu bringen und ihren Verdacht zu äußern.
So eine große Firma im Gewerbegebiet Leegemoor in Norden existierte in Ruperts Vorstellung gar nicht. Für ihn war Norden nur ein Vorort von Norddeich. Ein Nest, das vom Tourismus lebte. Eine Fischräucherei passte hierhin.
Allein das Wort Gewerbegebiet fand er lächerlich. Er wusste, dass es hier diese große Druckerei gab. SKN. Hier war auch die Redaktion vom »Ostfriesischen Kurier«, wo
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