Ostfriesensünde
musste darum kämpfen, nicht kleinlaut zu werden und sich unterbuttern zu lassen.
Scharf fuhr er Lennart Gaiser an: »Der Täter hat sich hier in diesem Haus seine Opfer ausgesucht und nun Ihren Vater geschnappt, wahrscheinlich, weil er ihm draufgekommen ist. Ich gehe davon aus, dass Sie den Täter kennen. Er könnte zu Ihrem engsten Kreis gehören … «
Lennart Gaiser drehte Huberkran den Rücken zu und wandte sich zu Weller. Huberkran konnte seine Wut auf Gaiser kaum noch unterdrücken.
»Stammt Ihr Kollege aus der Steinzeit?«, fragte Lennart Gaiser Weller. »Hat er nie etwas von Computertechnik gehört? Gibt es da keine Lehrgänge bei Ihnen?«
Weller sagte nichts. Huberkran schnaufte.
Lennart Gaiser fuhr fort: »Heutzutage knacken Hacker so einen Computer en passant.« Als könne ein Kripobeamter seine schwierigen Worte unmöglich verstehen, erläuterte er: »Im
Vorbeigehen sozusagen. Vielleicht hat er einen Trojaner bei uns reingesetzt, der regelmäßig alle neuen Patientinnen an ihn weitermeldet. Das kann heute jeder halbwegs begabte Dreizehnjährige mit Papis PC . Wir müssen den Täter also gar nicht kennen. Er hat dieses Haus mit hoher Wahrscheinlichkeit noch nie betreten. Gut möglich, dass er noch nie in seinem Leben in Leer gewesen ist.«
»Und warum«, wollte Weller wissen, »hat er sich dann genau diese Praxis ausgesucht?«
»Eine intelligente Frage, Herr Kommissar«, sagte Lennart Gaiser anerkennend.
Das Hausmädchen servierte stumm die Ostfriesentorte mit den Rumrosinen. Huberkran vermutete, dass sie eine Polin war.
Weller registrierte, dass Lennart Gaiser geschickt versuchte, einen Keil zwischen Huberkran und ihn zu treiben. Komisch, dachte er. Die Menschen spüren, dass uns mehr verbindet als das Berufliche. Sie fühlen sich davon bedroht und versuchen, uns zu entzweien.
»Wenn der Täter intelligent ist – und das muss ich voraussetzen, wenn er Sie – also die Polizei – seit Jahren an der Nase herumführt, wenn er also sozusagen intelligenter ist, als die Polizei erlaubt, dann hat er sich diese Praxis ausgesucht, weil ihn hier niemand kennt, also von hier aus keine Rückschlüsse auf ihn gezogen werden können. Vielleicht sitzt er in Süditalien in der Sonne am Meer und hat sich den Gynäkologen ausgesucht, dessen Computer am wenigsten gegen Hacker geschützt war.«
Weller musste anerkennen, dass Gaisers Schlussfolgerungen nicht ganz unlogisch waren.
Huberkran rührte weder Kuchen noch Tee an.
Weller fragte: »Und warum hat sich der Täter dann Ihren Vater geholt?«
»Der oder die Täter, Herr Kommissar«, verbesserte Rose
Gaiser. »Es ist eine Organisation, und sie wollen ein Exempel statuieren. Sie wollen die Aufregung in der Presse, die Jagd, die Diskussion, all das, was jetzt kommt.«
»Und warum?«
»Um ihre Themen in die Welt zu bringen. Für sie ist mein Mann der Verbrecher und ihrer Meinung nach hat er den Tod tausendfach verdient.« Sie wies auf die Buchregale und die Kunstschätze an den Wänden. »Für diese verbohrten Menschen ist das hier der Vorhof zur Hölle, und wir alle sind die Gehilfen des Teufels. Sie wollen ein Fanal setzen. Glauben Sie mir, Herr Kommissar, wenn Sie sich diese »Gotteskinder« vornehmen, dann haben Sie die Richtigen. Sie wollen uns zerstören und … «
»Warum haben sie denn nicht einfach längst diese Villa hier abgefackelt, sondern sich in all den Jahren nur einzelne Frauen herausgesucht und sie grausam umgebracht?«, brüllte Huberkran völlig unverhältnismäßig.
Das Hausmädchen verschwand wortlos. Weller hätte jede Wette gehalten, dass sie hinter der Tür stand und auf das Glöckchen wartete.
Rose Gaiser hob den Zeigefinger wie eine schlechte Grundschullehrerin: »Es gibt da einen Zusammenhang. Die Täter wollen darauf aufmerksam machen, dass völlig unbeobachtet von der Gesellschaft, sozusagen heimlich, still und leise ein Verbrechen geschieht. Niemand bekommt die ungeborenen Kinder zu Gesicht, sie verschwinden einfach. Genau das tun sie mit den Frauen. Jetzt, wenn alles auffliegt, werden sie ihre Taten propagandistisch nutzen und sagen, über die paar Frauen, da regt ihr euch auf und über die zig Tausend getöteter Kinder, da schweigt ihr.«
Lennart Gaiser stimmte seiner Mutter nachdenklich zu. »Und welche Genugtuung werden sie empfinden, wenn eine riesige SOKO eingesetzt wird, um den Massenschlächter – meinen Vater – zu retten. Und wer hat etwas für ein wehrloses Kind im
Mutterleib getan? Wir werden moralisch an der
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