Ostfriesensünde
Villa halten. So wie er Ann Kathrin musterte, wusste er genau, was dort normalerweise passierte. Sie zahlte und ließ sich eine Quittung geben.
Sie beschloss, nicht noch einmal als Sylvia Jansen aufzutreten. Vor dem Gartentor kam sie sich plötzlich schrecklich einsam vor. Sie wünschte sich Rita und Peter Grendel herbei, sie wollte jetzt nicht allein sein, aber sie musste ohne jede Hilfe durch diese Situation.
Sie fasste in die Jackentasche und schaltete das digitale Diktiergerät ein. Es war fein genug, um das Gespräch auch durch den Stoff aufzunehmen. Legal war das nicht, ein gerichtsverwertbares Beweismittel auch nicht, aber sie handelte intuitiv so. Sie wusste nicht, worauf das alles hinauslief, sie wollte Bewegung in die ganze Sache bringen, in der Hoffnung, die Wahrheit ans Licht zu befördern.
Sie stellte sich einen stinkigen Tümpel vor, in der undurchsichtigen braunen Brühe brodelte es. Irgendwo darin lag aber ein Geheimnis begraben, das sie kennenlernen wollte. Sie stieg in den Morast, um in ihm umzukommen oder die Wahrheit zu finden.
Als sie am Tor stand, sah sie zwei Frauen im hinteren Teil des Gartens. Sie spielten Federball. Beide waren jung, langhaarig und langbeinig. Die eine, die Ann Kathrin nur von hinten sah, trug einen knappen, pinkfarbenen Bikini. Die andere spielte im Blümchenkleid.
Der Federball war in der Hecke gelandet. Die Frauen lachten und sprangen hoch, kamen aber nicht an den Ball.
Ann Kathrin wollte zunächst klingeln, doch dann wählte sie den einfacheren Weg. Das schwere Tor war nicht verschlossen. Sie trat einfach ein. Die Trutzburg des größten Mädchen- und Frauenhändlers hatte sie sich gesicherter vorgestellt. Sie registrierte aber sofort die Überwachungskameras über der Haustür und am Dach. Von dort aus konnte Stenger die Straße vor der Villa überblicken.
Das Lachen der jungen Frauen irritierte Ann Kathrin. Sie wirkten so unbeschwert, gar nicht wie unterdrückte, geknechtete
Wesen. Die im Bikini kam jetzt freundlich lächelnd auf Ann Kathrin zu. Ihr Bikinihöschen war so klein, dass es kaum ihre Scham bedeckte. Sie war nicht die Frau, mit der Ann Kathrin telefoniert hatte. Sie sprach Ann Kathrin auf Englisch an. Es war ein steifes, aber korrektes Schulenglisch. Sie fragte Ann Kathrin, ob sie etwas für sie tun könne. Ann Kathrin behauptete, Rita Norden zu heißen und einen Termin mit Mister Stenger zu haben.
Die Frau im Blümchenkleid schaffte es, den Federball aus der Hecke zu schütteln und lief damit herbei. Sie hielt den Schläger wie ein Schwert, aber ihr freundliches Lachen signalisierte friedliche Absichten. Sie sprach weder Englisch noch Deutsch. Also folgerte Ann Kathrin, dass sich eine dritte Frau im Haus befinden musste.
Ann Kathrin ging, ohne zu zögern auf die Tür zu. Vermutlich hatte Stenger sie längst entdeckt.
Die im Bikini beeilte sich, die Tür für Ann Kathrin zu öffnen. Sie war sehr jung und ließ sich von Ann Kathrins sicherem Auftreten täuschen.
Hinter der Tür wurde es schon schwieriger, dort versuchte die, der das »R« so schwerfiel, Ann Kathrin am weiteren Betreten der Villa zu hindern. Sie stand auf der geschwungenen Holztreppe, die rechte Hand selbstbewusst aufs Geländer gelegt.
Die Schnitzereien hatten etwas Afrikanisches an sich. Die Bilder an den Wänden waren düstere Reproduktionen biederer Jagdszenen. Hirschgeweihe und Bilder wechselten sich ab. Ein ausgestopfter, auf beide Beine aufgerichteter Bär hatte eine Pranke in Ann Kathrins Kopfhöhe.
»Hell Stengel ist nicht zu splechen.«
»Für mich schon«, sagte Ann Kathrin und überlegte, welchen Weg sie wählen sollte. Es gab drei Möglichkeiten. Die Treppe hinauf, an der Chinesin vorbei, durch die Eichentür links neben dem Bären oder durch die schweren, dunkelroten Vorhänge.
Ann Kathrin vermutete, dass sich hinter den Vorhängen noch eine Tür befand. Wahrscheinlich sollten die Vorhänge Geräusche dämpfen. Es war eine Bauchentscheidung. Ann Kathrin hätte keine logische Begründung nennen können, außer vielleicht, dass sie vermutete, Stenger würde sich oben aufhalten, weil er von dort den Überblick hatte.
Ann Kathrin ging auf die Chinesin zu. Sie konnte ihr ansehen, dass der Körper der Frau sich versteifte. Sie nahm eine abwehrende Haltung ein.
Er hat mich gesehen und sie geschickt, um mich abzuwimmeln, dachte Ann Kathrin. Sie hat Angst vor den Konsequenzen, wenn sie es nicht schafft, aber ich muss trotzdem an ihr vorbei.
Mit jedem Schritt, den Ann
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