Ostfriesensünde
Sauerei!«
Stenger war echt moralisch empört über das, was Ann Kathrin von ihm wollte. Der war nicht einfach der eiskalte Geschäftsmann, für den ihn alle hielten, o nein. Der hatte eine Mission. Der glaubte wirklich daran, den deutschen Mann zu retten. Er befand sich im Krieg der Geschlechter. Der Mann hatte eine Moral! Ja, so verrückt sich das anhörte, Stenger tat für Geld nicht alles. Er hatte gerade Fünfzigtausend ausgeschlagen, weil die Sache nicht in sein Weltbild passte, gegen seine Grundsätze verstieß.
Es hatte aufgehört zu regnen und es war wieder schwülwarm. Die Hitze staute sich in der Stadt. Ann Kathrin wollte schon gehen und sich Stenger vorknöpfen, aber dann entschied sie sich, vorher noch einmal die Kleidung zu wechseln. In ihrem übereilt gepackten Koffer fand sie nichts Passendes. Sie verließ
den Schwarzen Bock in Richtung Innenstadt und wurde schon nach wenigen Metern in einer Boutique fündig.
Weiße blickdichte Stoffhose, weiße Bluse mit gestärktem Kragen, hellblaues Jackett. Schwarze italienische Schuhe mit einem drei Zentimeter hohen Absatz und einen Hosengürtel aus dem gleichen Material.
Das Ganze passte zum Wetter und zu ihrer Stimmung.
Sie zahlte mit ihrer EC -Karte der Sparkasse Aurich-Norden. Sechshundertzwölf Euro. In Ostfriesland, dachte sie, hätte ich die Sachen für die Hälfte bekommen.
Die Suche nach dem Mörder ihres Vaters ging ins Geld, aber kleinlich und geizig war sie noch nie gewesen. Sie hatte das Haus und das vermittelte ihr eine gewisse Grundsicherheit, auch wenn es noch zur Hälfte der Sparkasse gehörte.
Die blonde Verkäuferin, die ihr jugendliches Gesicht zur Maske geschminkt hatte, versuchte, Ann Kathrin noch »die passende Handtasche zum Outfit« zu verkaufen, weil »die kleinen Accessoires« ihrer Meinung nach das Bild perfekt machen und mit dieser Tasche könne Ann Kathrin da »punkten«. Ann Kathrin hatte den leisen Verdacht, dass sie auf Provision arbeitete.
Das Handtäschchen passte exakt zu Schuhen und Gürtel. Mehr als ein Lippenstift, ein Puderdöschen und zwei Taschentücher hatten kaum darin Platz. Die Tasche war von einem »angesagten Designer«, den Ann Kathrin aber nicht kannte. Die Verkäuferin wunderte sich laut darüber, dass dieses Genie eine Tasche zu dem Preis gemacht hatte. Sie sollte 398 Euro kosten.
Ann Kathrin zog ihre Esprit-Handtasche vor. Die andere gefiel ihr durchaus, aber sollte sie der jungen Verkäuferin wirklich sagen, dass die Tasche nicht in Frage kam, weil Ann Kathrin befürchtete, ihre Dienstwaffe nicht darin verstecken zu können? Die Heckler & Koch war ihr im Moment sehr wichtig, wenn sie schon ohne Partner ermittelte, wollte sie wenigstens nicht unbewaffnet
sein. Jeder, den sie in dem Zusammenhang traf, konnte der Mörder ihres Vaters sein.
Sie verließ in den neuen Kleidungsstücken die Boutique. Die alten brachte sie in einer riesigen lackierten Plastiktüte mit Werbeaufdruck in den Schwarzen Bock. Die Tasche war so groß wie ein Kinderzelt.
In ihrem Zimmer wechselte Ann Kathrin zweimal den Sitz der Heckler & Koch. Der Schulterhalfter saß irgendwie nicht richtig. Sie befürchtete, Stenger könnte die Waffe bemerken. Garantiert tastete er sein Gegenüber mit Blicken ab, um festzustellen, wer bewaffnet war und wer nicht. Sie selbst hatte im Laufe der Jahre ein Gespür dafür bekommen. Sie war auf Beulen im Jackett nicht angewiesen, zumal so eine Beule oft nur auf ein Handy in der Anzugtasche hinwies. Aber die Menschen bewegten sich in Stresssituationen anders, wenn sie bewaffnet waren. Für manche wurde die Waffe im Alltag so selbstverständlich, dass sie sie vergaßen. Sie trugen einen Revolver, einen Schlagring oder ein Springmesser bei sich wie andere ein Taschentuch oder eine Uhr, aber sobald sie unter Stress gerieten, veränderte sich ihr Verhalten, die Menschen wurden sich ihrer Waffe bewusst. Fast jeder griff einmal hin, bevor er zog, vergewisserte sich, dass die Waffe wirklich bereit war.
Ann Kathrin steckte die Heckler & Koch hinten in die neue Hose, dann bückte sie sich und überprüfte, ob das hellblaue Jackett die Handfeuerwaffe verdeckte. Der Schlitz hinten in der Jacke gefiel ihr nicht. Eine ungünstige Bewegung, ein Windstoß und der Blick auf die Heckler & Koch wäre frei. Da zog sie doch die Handtasche vor, obwohl die es schwer machte, schnell und ohne Vorwarnung für den Gegner an die Waffe zu kommen.
Dann nahm sie ein Taxi in den Gallierweg. Sie ließ den Fahrer direkt vor der
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