Ostfriesensünde
von Ihrem Vater und mir.«
Ann Kathrin hielt ihre Handtasche so, dass sie die Waffe darin fühlen konnte.
»Von meinem Vater und Ihnen?«
»Ja. Deshalb sind Sie doch gekommen, oder?«
Er zog die Schublade mit spitzen Fingern langsam, ganz langsam weiter auf. »Darf ich?«
Sie nickte.
Er hob Papiere an und fischte ein dünnes Fotoalbum heraus. Die Bilder klebten hinter Plastikfolie. Er hielt ihr das Album hin. In dem Moment krachte die Schublade auf den Boden.
Ann Kathrin wusste, dass das Fotoalbum eine simple Finte sein konnte, um ihre Aufmerksamkeit abzulenken. Er hatte mit Sicherheit eine Schusswaffe griffbereit, wenn nicht in der Schublade, dann woanders. Trotzdem musste sie sich die Bilder anschauen.
Es traf sie wie ein Leberhaken. Ihr blieb die Luft weg. Sie hatte erst zwei Bilder gesehen und schon war ihr schwindlig. Auf beiden waren ihr Vater und Stenger zu sehen. Es musste eine Geburtstagsparty gewesen sein. Jedenfalls stand eine dreistöckige Torte auf dem Tisch. Stenger und ihr Vater strahlten inmitten von schönen, leicht bekleideten Frauen. Die eine trug halterlose Netzstrümpfe, die andere Strapse. Eine dritte einen superkurzen Minirock. Die Bilder mussten in einem Nachtclub gemacht worden sein. Ein Stripteaselokal oder so etwas. Im Hintergrund glänzte eine Tanzstange auf einer leeren Bühne.
Stenger hob die Arme und sagte: »Ich werde jetzt mein Handy aus der Tasche ziehen und dann meinen Anwalt anrufen und die Polizei. Okay?«
Langsam senkte sich seine Rechte. Die Linke ragte immer noch zur Decke. Ann Kathrin sah den Löwen, der hinter Stenger aus der Wand zu springen schien. Sie dachte an den Bären unten im Flur und die Hirschgeweihe. Es fiel ihr schwer, an das Handy zu glauben. Außerdem, warum trug ein Mann in seinem Büro
ein Handy in der Hosentasche? Warum lag es nicht neben dem Computer auf dem Schreibtisch?
Ann Kathrin hatte die Heckler & Koch schneller auf Stenger gerichtet als der seine Hand in der Hosentasche.
»Machen Sie keinen Fehler!«, warnte Ann Kathrin ihn.
Er zog sein Blackberry mit zwei Fingern aus der Tasche und führte es ans Ohr. Sie hatte nicht mitbekommen, ob er gewählt hatte oder bluffte. Er sagte mit erhobenen Händen: »Hier spricht Günther Stenger. In meinem Büro im Gallierweg ist eine Frau, die behauptet, Ann Kathrin Klaasen zu heißen. Sie bedroht mich mit einer Schusswaffe.«
Ann Kathrin ließ die Heckler & Koch wieder in ihrer Handtasche verschwinden.
»Schon gut«, sagte Stenger, »schon gut. Nein, Sie müssen keinen Wagen vorbeischicken, es scheint sich um einen Scherz gehandelt zu haben. Nein. Es ist alles in Ordnung … Ja, ich verstehe, dass Sie nicht darüber lachen können. Konnte ich auch nicht. Alles Gute.«
Er legte das Blackberry auf die Schreibtischplatte. »Was wollen Sie, Frau Klaasen?«
»Die Wahrheit. Ich will die Wahrheit.«
Er lachte. »Die Wahrheit. Das ist originell. Ihr Vater kommt mit falscher Identität zu mir, gibt sich als Ludwig Stein aus, als Antiquitätenhändler. Na ja, mit altem Kram hat er bei mir jedenfalls nicht gehandelt, sondern mit Frischfleisch. Schöne Frauen aus der ganzen Welt!«
»Dem armen Teil der Welt!«
Er winkte ab. »Nach dem Krieg haben sich die deutschen Frauen den amerikanischen Soldaten an den Hals geworfen. Was meinen Sie denn, warum? Das war schon immer so. Es ist ein archaisches Grundprinzip. Die Frau sucht den Ernährer für sich und ihre Kinder.«
»Ernährer? Sklavenhalter, wollten Sie sagen.«
Er ging mit der stressigen Situation souveräner um als sie, fand Ann Kathrin, und das verunsicherte sie, noch mehr, es machte sie aggressiv.
»Haben Sie meinen Vater erschossen?«, fragte sie geradeheraus.
Er ließ sich in den schweren Bürosessel mit der orthopädisch angepassten, genau auf ihn abgestimmten Höhe fallen. Der Sessel federte nach.
»Man hat mir ja schon viel Blödsinn vorgeworfen, aber das ist endlich mal originell. Warum hätte ich einen meiner besten Vermittler umbringen sollen? Ihr Vater hat bei mir gutes Geld verdient. In schlechten Monaten fünfzigtausend. In miserablen vierzig. In guten auch mal sechzig und mehr. Alles, was er bekam, hat er mir auch eingespielt. Wir haben uns gemocht, Ihr Vater und ich. Ich will nicht so weit gehen zu behaupten, wir seien Freunde gewesen, aber … «
»Freunde?! Er hat sich als V-Mann bei Ihnen eingeschlichen, um Sie hochgehen zu lassen!«
»Ja, das hat mich schwer enttäuscht. Man kann heute keinem Menschen mehr trauen. Aber Ihr Vater
Weitere Kostenlose Bücher