Ostfriesensünde
es aber mit ihren verbrannten Händen nicht, den Polizeinotruf zu wählen.
»Soll ich Ihnen vielleicht behilflich sein?«, fragte er.
Sie tippte nicht mit den Fingerkuppen, sondern mit dem, was von ihren Fingernägeln noch übrig geblieben war.
Es meldete sich der Kollege Paul Schrader. »Sie haben den Notruf der Polizeiinspektion Aurich gewählt.«
Sie erkannte seine Stimme sofort. »Ja, Schrader. Hier spricht Ann Kathrin Klaasen. Ich bin auf Spiekeroog. Verbinde mich bitte sofort mit Ubbo Heide.«
»Über den Notruf?«
»Das ist ein Notruf.«
Es dauerte endlose Sekunden. Beukelzoon lag auf dem Boden. Er zog das rechte Bein an und für einen unbedarften Beobachter sah es aus, als wollte er sich einfach nur kratzen, aber Ann Kathrin wusste, dass er vorhatte, seinen Dolch zu ziehen.
Sie schoss ihm die Kniescheibe weg.
Er brüllte so laut und schlug mit den Fäusten gegen den Heizkörper, dass Ann Kathrin zunächst nicht hörte, wie Ubbo Heide sich meldete. Natürlich bekam er mit, dass am anderen Ende der Leitung etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.
»Hallo? Hier spricht Ubbo Heide, Kripo Aurich. Was ist los?«
»Ubbo, hier ist Ann Kathrin.«
»Gut, dass du anrufst. Du weißt, was los ist. Sie suchen dich überall.«
»Ich bin auf Spiekeroog. Hier ist ein Verbrechen geschehen. Heiko Käfer wurde erschossen und vermutlich auch seine Frau.«
»Dieser eklige Rechtsanwalt?«
»Ja, genau der. Und ich habe den Mörder meines Vaters. Er ist hier bei mir.«
Ubbo Heide hörte das Jammern und Schreien in Hintergrund.
»Ann Kathrin, du wirst doch jetzt keine Dummheiten machen?
Jeder hat ein Recht auf ein ordentliches Verfahren, und wenn du den Falschen hast, dann … Ich darf dich doch an Leer erinnern … «
»Ich bin Hauptkommissarin und ich bin stolz auf meinen Beruf. Ich werde den Mörder meines Vaters der weltlichen Gerechtigkeit überstellen. Das hätte auch mein Vater so gewollt. Ich will das alles zu Ende bringen. In Würde und Anstand.«
»Ja«, sagte Ubbo Heide, »damit ehrst du ihn, Ann Kathrin. Das ist korrekt von dir. – Du bist noch zur Fahndung ausgeschrieben, Ann Kathrin. Ich muss … «
»Ich weiß. Kein Problem. Schick bitte nicht irgendwen. Nicht Rupert oder … «
»Ich komme selbst. Bist du da, wo du bist, sicher?«
»Ja.«
»Hast du ihn schwer verletzt?«
»Er lebt noch. Ich brauche aber einen Krankentransport für ihn und für mich.«
»Wer ist es, Ann Kathrin?«
»Komm und schau ihn dir selber an.«
Rupert fühlte sich unverstanden und fluchte. Er wollte sich nicht geschlagen geben.
Ich werde Beweise finden, versprach er sich selbst. Ich werde sie finden und wenn ich in der Wohnung von Henn die Tapeten einzeln von der Wand ziehen muss.
Doch vorerst begnügte er sich damit, in der Polizeiinspektion Aurich die Kisten mit Akten zu durchwühlen, die im Vereinshaus der »Gotteskinder« beschlagnahmt worden waren. Die Vereinskasse wies erstaunlich viele Spenden auf. Es waren viele anonyme Spenden, zwischen fünfzig und zweitausend Euro.
Rupert kannte sich im Vereinsrecht zu wenig aus. Er fragte bei seinen Kollegen nach, ob anonyme Spenden überhaupt erlaubt
seien, denn die meisten Spenden waren anonym. Es sei denn, er ging davon aus, dass »Sammy Davis jr.«, »Maria Magdalena«, »Fix und Foxi«, »Karl May« und »Prinz Eisenherz« regelmäßige Spenden an die »Gotteskinder« überwiesen.
Als Rupert die Mitgliederlisten des Vereins durchging, stieß er auf einen gewissen Lennart Gaiser, der wegen militanter, vereinsschädigender Aktionen nach kurzer Mitgliedschaft vor zwei Jahren ausgeschlossen worden war.
Was hatte das zu bedeuten? Hatte Lennart Gaiser versucht, sich im Verein einzuschleichen, um ihn dann von innen heraus auffliegen zu lassen? Wollte er seinem Vater helfen, indem er den Verein ans Messer lieferte und sich rechtzeitig über neue, geplante Aktionen informierte? Hatte Lennart vielleicht versucht, diese Aktionen auf ein strafbares Maß zuzuspitzen, damit sein Vater die Bande endlich gerichtlich belangen konnte? Oder gehörte er wirklich dazu?
»Ich kann es Ihnen nicht sagen, Herr Kommissar«, weinte Henn.
»Warum nicht?«, fragte Weller und bemühte sich, nicht allzu drängend zu erscheinen. Was er jetzt brauchte, war Ruhe. Ruhe und Zeit.
»Ich habe ein Gefühl, als … als müsste ich sterben, wenn ich es sage. Ich kann doch nicht zum Verräter werden. Ich … «
»Sie wissen, wer all die Verbrechen begangen hat«, stellte Weller klar. »Er hat
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