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Ostfriesensünde

Ostfriesensünde

Titel: Ostfriesensünde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus-Peter Wolf
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sah, begriff sie augenblicklich, dass dies die Tatort-Arbeit der Kriminalpolizei revolutionieren würde. Sie sah nicht einfach ein Foto, sondern sie befand sich mitten im Raum, konnte sich langsam drehen, Stück für Stück jeden Stein betrachten, heranzoomen und per Mausklick öffnete sich jede noch so kleine DNA -Spur, die an den Steinen gefunden worden war.
    In Luzern hatte der Täter einfach eine zweite Wand eingezogen. Der ganze Raum war fünf Meter einundzwanzig lang und drei Meter zwölf breit. An der schmalen Seite hatte er mit sechsundneunzig Zentimeter Abstand zur real existierenden Mauer eine zweite Wand eingezogen, sauber gemauert und später tapeziert. Dahinter war die Leiche gefunden worden.
    Eine junge Familie hatte dreieinhalb Jahre in der Vierzimmerwohnung gelebt. Das Kinderbett stand an der Wand, hinter der die Tote lag, die Mickymaustapete zeugte noch davon. Aufgefallen war alles nur wegen einer geplatzten Wasserleitung, eine Etage darüber.
    »Die Frau befindet sich in psychiatrischer Behandlung. Was mit dem Mann und dem Kind ist, weiß ich gar nicht«, sagte Huberkran. »Der Familie wurde völlig der Boden unter den Füßen weggezogen. Das Haus steht inzwischen leer. Die anderen Mietparteien sind ebenfalls ausgezogen. Kann man ja verstehen. Es ist ein Neubau, wunderschöne Lage mit Blick auf den Vierwaldstätter See. Aber ich fürchte, der Besitzer wird es nur
noch abreißen können. Das Gebäude ist, glaube ich, sogar mit irgendwelchen Sozialmitteln für junge Familien vor vier Jahren gebaut worden. Er muss die Frau bereits während des Rohbaus eingemauert haben. Die Jungs von der Baufirma haben alle einen Albtraum hinter sich. Wir haben jeden Einzelnen, der an dem Bau beteiligt war, hart in die Zange genommen, aber keine ernsthaften Hinweise erhalten. Die zweite Leiche haben wir vor vier Wochen gefunden, bei einer Altbausanierung in Bamberg.«
    Er klickte den Tatort auf Spheron an. »Das gleiche Muster. Eine zweite Wand. Wir haben sie noch gar nicht identifiziert. Es werden alle Vermisstenmeldungen der damaligen Zeit durchgegangen. Die Rechtsmediziner schätzen, dass die Leiche seit zehn, vielleicht elf Jahren eingemauert war.«
    »Mein Gott«, sagte Ann Kathrin, »das bedeutet … «
    Weller bekam Schluckauf, und das lag nicht am Espresso. »Das bedeutet, wir wissen gar nicht, wie viele ihm noch zum Opfer gefallen sind … «
    »Genau. Seit zehn, elf Jahren, vielleicht länger, zieht einer durch die Lande und mauert Frauen ein. Weißt du, wie dick die Vermisstenkarteien aus der Zeit sind?«
    Ann Kathrin sah ihn fragend an. Sie wusste es nicht.
    » 14300 Fälle. 518 Kinder und 6400 Frauen gelten langfristig als verschwunden. Und täglich werden zwei- bis dreihundert Menschen als vermisst gemeldet. Die sind da nicht bei. Die meisten finden wir oder sie kommen selbst zurück, aber rund drei Prozent pro Jahr tauchen nie wieder auf.«
    »Das hier könnte der größte Kriminalfall der deutschen Nachkriegsgeschichte werden«, sagte Huberkran, und Ann Kathrin wies ihn zurecht, Kriminalfälle seien nichts, worauf man stolz sein könnte oder womit man angeben sollte.
    »Wir überprüfen im Moment sämtliche Leichenfunde der letzten Jahre in irgendwelchen Kellern oder … Das alles hat
doch nie jemand in einen Zusammenhang gebracht. Es handelt sich um ein weltweites Problem. Das Internationale Rote Kreuz hat den Welttag der Verschwundenen … «
    Weller stieß auf. »Welttag der Verschwundenen?«
    »Ja, da staunst du, was? Den Feiertag gibt es, und nicht mal du hast es mitgekriegt.«
    Ann Kathrin protestierte. Huberkrans ungenaue Sprache gefiel ihr nicht.
    »Ich würde das nicht Feiertag nennen. Da gibt es nichts zu feiern. Es handelt sich wohl eher um einen Gedenktag.«
    Huberkran nickte zerknirscht. Da hatte sie zweifellos recht.
    Ann Kathrins Stirn kräuselte sich: »Vielleicht hat der Täter ja nicht gleich damit angefangen, sie einzumauern. Die meisten Serientäter lernen im Laufe der Zeit. Verfeinern sozusagen ihre Technik. Vielleicht hat es damit begonnen, dass er Menschen eingesperrt hat. Wir suchen nicht einfach jemanden, der seine Opfer einmauert, sondern jemanden, der ihnen sehr bewusst die Freiheit nimmt. Ich glaube, darum geht es.«
    »Heißt das, ich habe Sie?«, fragte Huberkran erfreut.
    »Okay«, sagte Ann Kathrin. »Sie haben mich. Ich bin dabei«.
    »Uns«, fügte Weller sanft hinzu. »Du hast uns.«
     

Ansgar Kröger wusste, dass er etwas Verbotenes tat, als er das Haus betrat. Es

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