Ostfriesensünde
einem blauen Pin neben dem Eintrag angeheftet.
»Jetzt sag bloß, du hast es vergessen, Ann.«
Der Ansatz eines Lächelns huschte über ihr Gesicht, erstarb aber sofort wieder.
»Ja. Hab ich.«
»Aber wir fahren doch hin, oder?«
Er setzte sich anders hin und sprach forsch, voller demonstrativer Vorfreude. »Lass uns bald fahren, bevor die besten Teile weg sind.«
Sie wollte sagen, du sammelst doch keine Kinderbücher, sondern ich, aber im letzten Moment hielt sie sich zurück. Sie sah ihn an und verstand seine Bemühungen als liebevolle Zuwendung. Vielleicht hatte er recht. Ein Moment des Durchatmens konnte nicht schaden.
Sie ließ den Blick über den Frühstückstisch schweifen und sagte: »Danke für das alles, Frank. Danke. Ich weiß, dass ich im Moment schwer auszuhalten bin, aber … «
»Alles ist okay.«
Um ihm einen Gefallen zu tun, pikste sie mit der Gabel ein erstes Stück Mortadella auf und schob es sich in den Mund. Aber dann entfaltete der Geschmack auf ihrer Zunge ein Feuerwerk von Gefühlen. Gebratene Mortadellastücke waren eine
Kindheitserinnerung. Das hatte Papa gern für sie gemacht. Ein schnelles, einfaches Essen, das keinerlei Vorbereitung brauchte. Aber sie hatte es immer geliebt.
Ihr Vater verbrauchte gerne Reste, deswegen kochte er Suppen oder hackte alles klein, was noch da war, und warf es in die Pfanne.
Wie einer plötzlichen Fressattacke folgend, stopfte sie in wenigen Sekunden alles in sich hinein und spülte das Essen mit dem frischgepressten Orangensaft hinunter. Dann rülpste sie laut, und das tat gut.
Frank lachte. »Na bitte. Die Welt hat dich schon fast wieder.«
»Ja«, sagte sie. »Gleich.«
Schon im Stehen trank sie ihren Kaffee, dann verschwand sie mit einem Milchschaumbart an der Oberlippe im Badezimmer.
Weller räumte den Tisch ab und ließ ihr Zeit.
Er wollte gerne genau wissen, mit wem er es zu tun hatte, bevor er in die Auseinandersetzung ging. Was er über Ann Kathrin Klaasen in Erfahrung bringen konnte, ergab ein widersprüchliches Bild. Als Kommissarin in spektakulären Fällen durchaus erfolgreich, von der Presse hochgelobt, stand sie gleichzeitig in dem Ruf, scheu zu sein und wenig teamfähig. Innerhalb der hausinternen Hierarchie wurde sie eher ausgebremst und als Unruhefaktor angesehen, aber von ihrem Chef geradezu liebevoll gefördert.
Mehrere Disziplinarverfahren. Offiziell wurde sie immer wieder rehabilitiert, intern galt sie aber als angeschlagen.
Er musste sie als Gegnerin ernst nehmen.
Ihre blonden Haare wirkten gefärbt auf ihn. Sie war zweifellos durchtrainiert, und ihre Ergebnisse beim Übungsschießen lagen jeweils im oberen Drittel.
Er kannte Fotos, auf denen sie schmalere Hüften hatte. Aber ihr Gang war federnd.
Angeblich arbeitete sie verbissen daran, ihn zu finden. Doch nun sah er sie über einen Flohmarkt schlendern und in Bilderbüchern blättern.
Ich könnte dich erledigen, dachte er. Jetzt, einfach hier. Dich und deinen Partner. Es wäre ein Kinderspiel.
Er hatte fünfzehn Patronen im Stangenmagazin seiner Beretta. Kaliber 9 mm Parabellum. Er würde höchstens zwei Kugeln brauchen. Eine für Weller und eine für Ann Kathrin Klaasen.
Seine Beretta war extrem zuverlässig. Er benutzte sie seit 1988 . Er hatte inzwischen mindestens 10 000 Schuss mit ihr abgegeben, ohne dass jemals eine einzige Ladehemmung vorgekommen wäre.
Du bist verletzlich, Ann Kathrin. Du lebst nur noch, weil ich dich leben lasse. Du bist eine schöne Frau. Aber wenn du mir zu nahe kommst, knipse ich dich, ohne zu zögern, aus. Und die Witzfigur neben dir ebenfalls. Aber warum sollte er sie hier auf dem Flohmarkt erschießen? Er hatte keine Eile.
Wenn er sie erledigen müsste, würde er es aus weiter Distanz tun. Sein M 40 Präzisionsgewehr lag im Kofferraum. Er hatte sämtliches Zubehör dabei. Einen Restlichtverstärker, einen Laserentfernungsmesser. Die Waffe war auf 800 bis 1000 Meter Entfernung noch tödlich genau.
Er hatte schon lange nicht mehr auf einen Menschen geschossen. Aber er wusste, was er konnte, und war bereit dazu, es jederzeit wieder zu tun.
Die ostfriesische Sonne meinte es gut mit den Norddeicher Bücherfreunden und lächelte mild auf sie herab. Norderney erstrahlte zauberhaft verlockend im Licht, und selbst einige Bausünden aus den sechziger Jahren wirkten von Ferne wie leuchtend weiße Perlen.
Dem ostfriesischen Wind gefielen die Bücher, und er blätterte neugierig in ihnen.
Staunend sah Weller, wie Ann Kathrin durch
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