Ostfriesensünde
war ein unheimliches Gebäude. Er konnte es vom Fenster seines Kinderzimmers aus sehen. »Ein Rattenloch« nannte sein Vater es abschätzig und die Mutter »die ewige Baustelle«. Aber es war ein spannender Spielplatz für Ansgar.
Ansgar wollte später einmal Pirat werden und große Abenteuer erleben. Er träumte davon, gegen Riesenkraken zu kämpfen, unbekannte Inseln zu entdecken und schöne Frauen zu retten.
Er hörte Bettina Göschls Piratenlieder. Er konnte jedes Lied
von der CD auswendig mitsingen. Er wollte sich Bettina und ihrer Bande anschließen, um dem bösen König das Gold zu stehlen und unter die Armen zu verteilen. Er wollte ein guter Pirat werden. Einer, den die Menschen lieben. Einer, auf den die Mutter stolz sein kann.
Jetzt saß Mama auf der Terrasse und sprach mit Tante Hedi, die einen neuen Freund hatte, was aber keiner wissen durfte, weil der noch verheiratet war. Die Frauen frühstückten zusammen und waren viel zu sehr mit sich beschäftigt, um auf Ansgar zu achten.
Er wollte nur ganz kurz in das Gebäude. Er musste sich selbst beweisen, dass er mutig genug war. Kein kleiner Schisser wie Gerrit.
Aber dann hörte Ansgar dieses Geräusch. Da war ein Klopfen in der Wand. Es gab dort keine Tür, nur diese Mauer. Aber dahinter musste jemand wohnen.
»Hallo?«, sagte Ansgar. »Hallo?«
Er kam sich komisch dabei vor, in diesem leeren Raum »Hallo« zu rufen, doch er wusste, dass Ratten Angst vor Geräuschen hatten. Sie würden ihn nicht beißen. Sie würden vor ihm fliehen, wenn dies wirklich ein Rattenloch war.
Er trat fest mit dem Fuß auf. Er hatte es im Fernsehen gesehen. Ratten und Schlangen fliehen, wenn sie die Füße der Menschen auf dem Boden trampeln hören. Sogar Haie fliehen, wenn man unter Wasser laut schreit. Aber er durfte auch nicht zu laut sein. Mama und Tante Hedi sollten ihn nicht auf der Terrasse hören.
Ratten haben gute Ohren. Ein Flüstern musste reichen.
»Hallo? Hallo?«
Dann bekam er eine Antwort: »Ich bin hier! Hier! Ich werde hier gegen meinen Willen festgehalten. Bitte helfen Sie mir! Holen Sie mich hier raus! Ich heiße Judith Harmsen! Ich werde hier gegen meinen Willen … «
»Wo bist du?«
»Hier, hier, hinter der Wand!«
Sie schlug so heftig gegen die Steine, dass Ansgar zurückschreckte.
»Hinter der Wand?«
»Ja, hier! Ich bin hier! Bitte … «
Sie erkannte die Kinderstimme. Ein spielendes Kind. Die Rettung!
»Ich heiße Judith Harmsen. Wie heißt du?«
»Ansgar Kröger.«
»Ansgar! Böse Menschen haben mich hier eingemauert. Bitte befrei mich!«
»Bist du ein Geist?«
»Nein, ich bin kein Geist. Ich heiße Judith Harmsen. Ich wohne eigentlich in Bremen. Ich bin nicht freiwillig hier.«
Ansgar kannte eine Geschichte von einem Geist, der in einer Flasche eingesperrt worden war. War das hier so ähnlich? Hatte er auch drei Wünsche frei, wenn er Judith Harmsen befreite?
Er überlegte, was er sich wünschen sollte. Eine Ritterburg mit vielen Figuren, so wie der Gerrit sie hatte. Und vielleicht für Mama ein eigenes Auto, damit sie sich nicht immer mit Papa zanken musste, wer den alten BMW fahren durfte.
»Ansgar, bitte, lauf ganz schnell nach Hause zu deinen Eltern! Sag ihnen, dass ich hier sitze. Ich heiße Judith Harmsen. Sie sollen die Polizei rufen! Bitte beeil dich, bevor der Mann zurückkommt und dich auch schnappt!«
Ansgar drehte sich um. Da war kein Mann. Und er wollte nicht feige sein.
»Meine Mama darf nicht wissen, dass ich hier bin. Ich darf hier gar nicht hinkommen.«
»O mein Gott, nein! Muss mich ausgerechnet ein Kind hier finden? Wie alt bist du, Ansgar?«
»Fünf.«
»Wo wohnst du?«
»Direkt hier nebenan, bei meiner Mama.«
»Wie heißt die Stadt? Wo sind wir? Weißt du das?«
»Jever.«
»Bitte, Ansgar, ich sterbe hier, wenn man mich nicht herausholt. Nur du kannst mich retten, Ansgar. Deine Mama wird nicht böse auf dich sein, wenn du ihr die Sache erzählst. Bitte! Ich verlass mich auf dich! Beeil dich!«
Als Ansgar das Haus verließ und mit ausgebreiteten Armen über das gebogene lange Brett balancierte, rutschte er ab und fiel in die Grube mit dem Bauschutt. Er schlug sich das Knie auf und es tat am Rücken weh. Er blutete. Er weinte und schrie. Er wollte nicht weinen. Er wollte ein Pirat sein. Ein tapferer Held. Judith Harmsen befreien und …
Aber dann schimpfte die Mama mit ihm, und Tante Hedi sah sehr besorgt aus. Seine Wunde am Knie musste desinfiziert werden, und Mama bestand darauf, dass er eine
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