Ostfriesensünde
ein Buch aus ihrer düsteren Welt herausgerissen wurde. Es war ein schlichter Band aus grauer Pappe, wie weggeworfenes Verpackungsmaterial. Aber es bedeutete für Ann Kathrin etwas ganz Besonderes. Es waren Kindergedichte von Peter Maiwald. »Die Mammutmaus sieht wie ein Mammut aus.«
Sie hielt das Buch geöffnet in der Hand und tastete ungläubig über eine Seite. Weller trat zu ihr und sah über ihre Schulter.
»Es ist ein signiertes Exemplar«, sagte Ann Kathrin und in ihrer Stimme lag Kinderstaunen.
»Vielleicht wohnt der hier. Ostfriesland soll ja für Schriftsteller eine sehr fruchtbare Gegend sein.«
Ohne den Blick vom Buch zu wenden, antwortete Ann Kathrin: »Nein, er ist letztes Jahr gestorben. Er war aus Düsseldorf. Ich mochte diesen alten Säufer. Er hat ein schmales, aber großartiges Werk hinterlassen.«
Weller fragte sich, woher sie wusste, dass er ein Säufer war. Doch er wollte sich nicht mit einer weiteren Frage als Ignorant bloßstellen. Vielleicht wusste das ja innerhalb der literarischen Szene jeder. Vielleicht schickten seine Fans ihm ja regelmäßig Weinflaschen als Dankeschön.
Schon hatte Ann Kathrin die nächsten Perlen in der Hand. Eine Erstausgabe von Monika Feths »Gedankensammler« und »Vom kleinen Igel, dem alles zu kratzig war« von Ulrich Maske und Silke Brix-Henker. Zum ersten Mal seit dem Zusammentreffen mit Frau Klocke bei Dr.Wolter sah Weller Ann Kathrin wieder lächeln.
»Was sollen die Bücher kosten?«, fragte sie.
»Ein Euro pro Buch«, schlug die kleine Mareike vor und kaute nervös auf der Unterlippe herum, weil sie fürchtete, zu viel verlangt zu haben. Doch Ann Kathrin blinzelte gegen die Sonne und
sagte: »Aber das ist viel zu wenig. Das sind wundervolle Stücke, und so gut erhalten. Man kriegt diese Bücher nirgendwo mehr.«
»Ja, die sind schon alt.«
»Sie sind nicht alt, Kind. Sie sind wertvoll.«
»Ja, dann vier Euro?«
Vermutlich hätte Ann Kathrin allein für den signierten Gedichtband von Peter Mailwald fünfzig Euro auf den Tisch gelegt, aber um dies zu verhindern, mischte Weller sich ein: »Ann, Feilschen geht eigentlich anders. Du musst es runterhandeln und die Verkäuferin rauf.«
»Ja«, sagte Ann Kathrin, »stimmt«, und hielt dem Kind einen Zehn-Euro-Schein hin.
»Darf ich noch ein bisschen weiterwühlen?«, fragte sie.
Mareike nickte strahlend und wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. Dann sah sie triumphierend zu ihrer älteren Schwester hinüber, die immer noch auf ihren Computerspielen saß, für die sich noch kein Mensch interessiert hatte.
Ann Kathrin nahm Weller in den Arm und drückte sich einmal kurz an ihn, um sich für seine Hartnäckigkeit zu bedanken, sie hierhingeschleppt zu haben.
»Das ist eine richtige Fundgrube. Wenn das so weitergeht, finde ich hier noch das Bilderbuch von Charlie Watts.«
»Was?«
»Charlie Watts. Der Schlagzeuger der Stones. Er soll in den sechziger Jahren ein Kinderbuch verfasst haben. Ich weiß nicht mal den Titel. Ich habe es überall gesucht, antiquarisch, in England, in Deutschland, in Amerika. Aber entweder ist es ein Gerücht und es hat dieses Kinderbuch nie gegeben oder … es ist irgendwie verschwunden.«
Plötzlich sah sie wieder nachdenklich aus, als könnte sie gleich im Ermittlungssumpf um den Tod ihres Vaters versinken. Reichte der Gedanke an ein Kinderbuch, dessen Spuren sich verloren, aus, um sie wieder zurückzukatapultieren?
Aber schon entdeckte sie einen neuen Titel, der sie interessierte.
Weller löste sich von ihr und flanierte an den Bücherständen vorbei.
Die Frisia V lief ein und brachte Touristen aus Norderney zum Festland zurück. Der Zug wartete bereits in Norddeich-Mole. Niemand fuhr jetzt gern zurück, denn Ostfriesland zeigte sich von seiner verlockendsten Seite.
Das milde Klima mit dem typischen Nordseegeruch nach Fisch, Algen und Mineralien ließ die Menschen tiefer atmen und machte ihnen die Abreise schwer. Die meisten schworen, wiederzukommen. Schon bald. Andere beschlossen, sich hier ein Haus zu kaufen. Sie warteten nur noch auf den Lottogewinn, um die Arbeit zu Hause hinschmeißen zu können, oder zumindest auf die Rente. Aber dann …
Weller spürte einen Druck in sich hochsteigen, auch ein Buch zu kaufen. Er konnte sich schlecht mit Ann Kathrin in Konkurrenz setzen und nun auch Bilderbücher sammeln. Aber er kam sich irgendwie als Banause vor. Wenn Bücher ihn gar nicht interessierten, was sollte sie, die leidenschaftliche Kinderbuchsammlerin,
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