Ostfriesensünde
von ihm halten?
Er war wild entschlossen, jetzt auch etwas zu kaufen und abends mit ihr im Wohnzimmer zu sitzen und zu lesen. So hätten sie etwas Gemeinsames. Aber er konnte sich nicht auf ihre Kinderbuchwelt einlassen, er musste sich doch davon abgrenzen.
Da sah er einen Stand mit weniger bunten Büchern. Düstere Titelbilder. Krimis.
Hinter dem Büchertisch saß der Student Tido Odinga auf einer Kiste und drehte sich eine Zigarette.
Als junger Mann, bevor er Renate kennengelernt hatte, galt Weller als Leseratte. Er war Krimifan, bezeichnete sich selbst gerne als Kenner und verschlang zwei, drei Krimis pro Woche. Für ihn waren Taschenbücher wirklich Taschenbücher. Nie hätte
er einen Krimi als Hardcover gekauft. Er trug sie bei sich, die dünnen Bücher von Raymond Chandler, Hansjörg Martin und Michael Molsner.
In der Ehe mit Renate hatte er aufgehört zu lesen. Für sie war das alles nur triviales Zeug. Viel zu lange hatte er versucht, ihr zu gefallen.
Er blätterte kurz in einem Jerry Cotton, fand die Sprache aber zu großspurig. Dann erregte ein Cover seine Aufmerksamkeit: »Mord, Mord, Mord« stand darauf, der Autor hieß »Trio Mortabella«. So heißt kein Mensch, dachte er, drehte das Buch um und verstand den Scherz. Drei Autoren hatten den Band gemeinsam verfasst. Zwei Frauen und ein Mann. Sie waren mit viel Lebensfreude hinten auf dem Buch abgebildet. Christiane Franke, Regine Kölpin und Manfred C. Schmidt. Sie kamen aus Ostfriesland, und ihre Geschichten spielten hier.
Weller schlug das Buch auf und las sich sofort fest.
Das ist es, dachte er. Ich werde Krimis sammeln. Nicht irgendwelche, sondern Ostfrieslandkrimis. Autoren begehen Morde da, wo ich ermittle. Das kann mir nicht egal sein.
Amüsiert griff er zum nächsten Buch. »Stahnke und der Spökenkieker« von Peter Gerdes.
Ja, dachte Weller noch einmal. Ostfrieslandkrimis, das ist es. Damit kann ich sogar vor meinen Kollegen bestehen. Ich werde alles lesen, was es gibt, alles. Ich werde es sammeln, ich werde die Autoren treffen, ich werde …
Tido Odinga sah zu Weller herüber.
»Ostfrieslandkrimis! Ich steh drauf! Die Gegend hier muss irgendetwas haben, das Kriminalschriftsteller anzieht. Manche benutzen die wie Reiseführer, ziehen herum und gucken, wo die nächste Leiche liegt. Man kann diese Bücher überhaupt nicht mit irgendwelchen Großstadtkrimis vergleichen. Sie sind völlig anders … Ich habe während des Studiums damit angefangen. Aber Vorsicht, das macht süchtig.«
Tido zündete sich die Zigarette an. »Wenn man einmal damit anfängt, wird man das Laster nicht mehr los.«
Es interessierte Weller zwar nicht, aber um überhaupt etwas zu sagen, fragte er: »Was studieren Sie?«
»Philosophie und Soziologie. Aber ich denke täglich darüber nach, alles hinzuschmeißen und Krimis zu schreiben, glauben Sie mir … «
Ann Kathrin kam mit einem Stapel Bücher unterm Arm auf Weller zu. Einem plötzlichen Impuls folgend, ließ Weller die Krimis wieder fallen und griff zu den philosophischen Fachbüchern. Er nahm das erste, das obendrauf lag, hielt es Tido Odinga hin und fragte: »Wie viel?«
»Fünf Euro«, antwortete der und wunderte sich über Wellers Stimmungswandel.
»Fünf Euro? Dahinten gibt es Kinderbücher, ganz seltene Exemplare, die sind sogar signiert und kosten nur einen Euro.«
»Mensch, Kinderbücher! Das hier ist wissenschaftliche Literatur.«
»Ja, dadrüben sind aber noch Bilder drin«, sagte Weller.
Tido Odinga lachte lauthals und zeigte seine nikotingefärbten Zähne.
Weller zahlte die fünf Euro.
Neugierig schielte Ann Kathrin auf den Titel. »Was hast du denn da, Frank?«
Er las es mit ihr gemeinsam: Daniel C. Henrich: »Zwischen Bewusstseinsphilosophie und Naturalismus. Zu den metaphysischen Implikationen der Diskursethik von Jürgen Habermas«.
Ach du Scheiße, dachte Weller, hoffentlich fragt sie mich jetzt nicht, was das bedeutet.
Sie pfiff anerkennend durch die Lippen, nahm einen Meter Abstand und sah ihn an, wie sie ihn noch nie angesehen hatte. Als würde sie einen völlig neuen Menschen kennenlernen.
»Das interessiert dich?«
Er nickte und sah vor sich auf den Boden.
Was, um alles in der Welt, dachte Weller, mögen »metaphysische Implikationen« sein und was eine Diskursethik? Er nahm sich vor, es herauszubekommen. Noch heute Abend.
In gewisser Weise war er Daniel C. Henrich jetzt schon dankbar. Er hatte Ann Kathrin schwer beeindruckt.
»Und was ist mit den Krimis?«, rief Tido
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