Ostfriesensünde
vorsichtiger. Er lachte mit seiner ansteckenden Fröhlichkeit und erzählte erst mal einen Witz, um alle aufzulockern: »Kommt ein Ostfriese zum Papst und gratuliert dem Papst zum Namenstag. Fragt der Papst, wieso, heute ist doch gar nicht Benedikt. Sagt der Ostfriese: Nein, aber der Sechzehnte.«
Weller gluckste vor Freude. Er mochte alles, was kirchliche
Würdenträger ein bisschen auf die Schippe nahm. Die grausam strenge, religiöse Erziehung seines Vaters war immer noch für jedes Gegengewicht dankbar.
Dann wurde Ann Kathrin von Rita in den Arm genommen und heftig gedrückt. »Du siehst gar nicht gut aus, mein Mädchen«, sagte Rita, und es klang aus ihrem Mund fast wie ein Kompliment, so wohlwollend kam der Satz daher.
Genau dafür mochte Ann Kathrin Rita. Sie war geradeheraus und sagte den Menschen platt vor den Kopf, was sie dachte. Bei ihr wusste Ann Kathrin immer genau, woran sie war. Bei all der vielen Verstellung, den Lügen und der Trickserei, die Ann Kathrin in ihrem Beruf begegnete, brauchte sie so eine Beziehung. Personen, die freiheraus waren und nicht versuchten, zu manipulieren.
Wenn Rita sagte: »Du hast aber ein tolles Kleid an«, dann konnte sie sicher sein, dass ihr dieses Kleid auch gefiel. Es war aber auch möglich, von Rita den Satz zu hören: »So einen Putzlumpen würde ich lieber für die Flurwoche benutzen.«
Ann Kathrin spürte, dass diese Ehrlichkeit ihr guttat.
Sie diskutierten kurz, wer heute Abend den Fahrdienst übernehmen sollte. Weller wollte auf keinen Fall, dass Ann Kathrin fuhr. Sie musste lockerer werden. Sie sollte sich entspannen und sei es mit ein bisschen zu viel Wein …
Er sah Rita nur kurz an. Sie war der gleichen Meinung und zwinkerte Weller zu. Einer von ihnen dreien würde fahren, auf keinen Fall Ann Kathrin.
Sie hatte die Blicke und die Einigung der drei überhaupt nicht mitgekriegt und schlug vor: »Ihr könnt ruhig was trinken. Ich kutschiere euch.«
Wie aus einem Mund hörte sie ein dreifaches: »Nein.«
Dann begannen Weller und Peter sich demonstrativ zu zanken, wer von ihnen beiden heute »die Ehre habe, die Damen vom Gulfhof wieder sicher in den Distelkamp zu bringen«.
Rita zog Ann Kathrin zu sich. »Das lassen wir die Männer untereinander ausmachen.«
»Sehe ich wirklich so schlecht aus?«, fragte Ann Kathrin zurück.
»Wenn du Rente beantragen willst, schmeiß einfach deinen Ausweis weg und lass dich schätzen.«
Ritas Diagnose war gleich sehr klar: »Du arbeitest zu viel. Du schläfst zu wenig. Trinkst zu viel Kaffee und zu wenig Ostfriesentee und machst dir viel zu viele Sorgen. Hast zu wenig Spaß im Leben und … « Rita sah Ann Kathrin tief in die Augen. »Soll ich fortfahren? Die Liste ist soo lang.«
Ann Kathrin schüttelte den Kopf. »Nein, du hast ja recht.«
Dann kam sie sich vor, als würde sie sich ein bisschen in die Arme von Rita fallen lassen.
Inzwischen warfen Weller und Peter Grendel eine Münze. Weller wählte Kopf und Peter Zahl. Peter Grendel fing die Münze in der Luft auf und klatschte sie auf seinen Oberarm.
»Kopf.«
Weller grinste. »Na toll, dann fahre ich.«
»Nee«, sagte Peter, »wieso das denn? Du hast gewonnen. Ich fahre.«
Ann Kathrin wollte sich einmischen, aber Rita zog sie zum Auto. »Das kriegen die beiden schon klar. Mach dir das nicht auch noch zum Problem. Kennst du die neue CD von Otto Groote?«
Schon eine halbe Stunde vor Beginn waren gut hundert Zuhörer im Gulfhof. Margritt Kubik-Harms begrüßte alle Gäste persönlich an der Kasse. Sie hatte nicht nur diesen Abend organisiert, sondern mit ihren Helferinnen aus dem Gulfhof einen Ort mit großer kultureller Anziehungskraft für die ganze Region gemacht. Neben ihr stand bescheiden und zurückhaltend Otto Groote. Es berührte ihn, dass hier zahlreiche Menschen hinkamen, denen seine Musik wirklich wichtig war.
Die Anlage war aufgebaut, der Soundcheck gemacht, im Publikum viele Fans – was sollte schiefgehen?
Rita Grendel fragte Otto Groote nach ein paar plattdeutschen Begriffen von seiner letzten CD . Schnell einigten sie sich darauf, dass Plattdeutsch ja in jedem Dorf anders gesprochen werde. So heißt zum Beispiel »Frosch« allgemein »Pogg«, aber in Emden auch »Frötske«, im Rheiderland »Kickert« und im Moormerland »Kritzke«. Oder »Schofftied«, das bedeutet in einigen Teilen Ostfrieslands »Arbeitszeit« und in anderen Gegenden »Pause«.
Während Rita Grendel sich nun mit Otto Groote über die Kinderliedermacherin Bettina
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