Ostfriesensünde
weiter.«
»Ich hatte gleich befürchtet, dass sie so etwas ausheckt«, gab Weller zu.
»Aber wir können damit keine Zeit verlieren. Ich möchte, dass sie mit den Betroffenen spricht.«
»Den Betroffenen? Ich denke, die sind tot?«
Jetzt, im Gespräch mit Weller, kam Huberkran sich kleinkariert vor, weil das Lachsbrötchen, eingewickelt in eine Serviette, vor ihm lag. Er konnte das jetzt nicht einfach so in seine Jacke stecken oder in seiner Computertasche verstauen. Er begann widerwillig, es aufzuessen.
»Ich meine, mit den betroffenen Familien, Frank. Wir haben da nämlich eine Theorie. Ich habe mit Kollegen geredet, die Vermisstenmeldungen bearbeitet haben. Einige von ihnen haben Monate, ja Jahre, nach Leuten gesucht. Für die Familien ist es am schlimmsten. Ein Kollege erzählte mir von einer Mutter, die ihm sagte: Es wäre mir lieber, man würde mir mein totes Kind vor die Tür legen als ständig in dieser Angst und dieser Hoffnung zu leben. Sie beklagte, nicht mal ein Grab zu haben, zu dem sie gehen könne. Sie könne nicht wirklich abschließen. Die Wunde würde ewig offen gehalten.«
Weller verstand. »Ihr geht davon aus, dass jemand die Familien bestrafen will?«
»Ja. Gingen wir eine Weile. Aber es lassen sich keine Zusammenhänge konstruieren. Sie haben nichts gemeinsam, nichts außer einer Toten. Ich will, dass Ann Kathrin nach Luzern fährt und nach Bamberg. Dass sie sich die Akten anschaut und … «
Plötzlich fuchtelte Huberkran, der bis jetzt versucht hatte, ruhig zu bleiben, wild mit den Händen herum. Seine Gesichtszüge entgleisten und er brüllte: »Verdammt nochmal, sie kriegt kein Frei dafür! Meinetwegen kann sie es machen! Meinetwegen kann sie auch tagelang Minigolf spielen gehen, wenn es ihr guttut! Aber erst, wenn wir den Fall gelöst haben! Ich kann jetzt nicht auf sie verzichten, weil die Dame sich etwas in den Kopf gesetzt hat … «
Weller konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Das würde
ich ihr an deiner Stelle nicht so sagen. Glaub mir, ich kenne sie besser als du. Mit Druck kommt man bei ihr nicht weiter.«
Während Weller und Huberkran in Norddeich miteinander redeten, klingelte Wilhelm Beukelzoon bei Ann Kathrin Klaasen im Distelkamp. Sie war gerade dabei, sich ein bisschen zurechtzumachen. Sie hatte sich die Haare gewaschen und ein Frotteetuch um den Kopf zu einem Turban zusammengebunden. Sie trug Wellers viel zu großen Bademantel, weil der ihr eine gewisse Sicherheit gab, die sie in ihrem eigenen Bademantel, den ihr Ex ihr vor Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte, vermisste.
Durch die Milchglasscheiben in der Tür sah sie die Umrisse eines Mannes. Sie kannte ihn nicht und hatte keineswegs vor zu öffnen, aber er hatte offensichtlich eine Bewegung im Haus gesehen, denn er klopfte gegen die Glasscheibe und stellte sich vor, bevor ihm geöffnet wurde.
»Frau Klaasen? Ich bin Wilhelm Beukelzoon.«
Sofort war sie an der Tür. Sie befand sich zwischen Freude und Angst.
Er hatte silbergraue Haare, war glatt rasiert. Seine großen schwungvollen Lippen erinnerten sie an Mick Jagger oder Steven Tyler. Er war dünn, aber obwohl seine Kleider zwei Nummern zu groß am Körper schlabberten, wirkte er nicht klapprig, ja komischerweise nicht einmal alt. Er hatte einen festen Händedruck und ein verbindliches Lächeln. Ein Mann voller Tatkraft und Führungsqualitäten. Gebräunt, aber keineswegs von einer Sonnenbank. Ein gepflegtes Gebiss. Eine Sonnenbrille in der Brusttasche vom hellblauen Oberhemd. Seine Bundfaltenhose von Cerutti hatte die Farbe einer verwaschenen Bluejeans, war aber aus einem edlen, leichten Stoff mit viel Seide. In den braunen Lederschuhen, die perfekt zum Hosengürtel passten, war er barfuß.
Er hatte sein Jackett locker über die Schulter gelegt und hielt es mit zwei Fingern fest wie eine leichte Einkaufstüte.
»Ich hoffe, Sie erschrecken nicht, Frau Klaasen. Ich habe es vorgezogen, Sie selbst aufzusuchen. In meiner Situation ist es klug, die Identität nicht preiszugeben und den Wohnort schon mal gar nicht.«
Sie entschuldigte sich jetzt schon zum dritten Mal für ihren Aufzug und bat ihn herein. Er bewegte sich in der Wohnung, als sei er schon oft dort gewesen. Ann Kathrin bot ihm einen Platz an. Sie nahm ihm das Jackett ab und hängte es an die Garderobe. Es hatte einen feinen Duft von frisch geschnittenem Gras an sich. Als sie sich die Finger kurz vor die Nase hielt, stellte Ann Kathrin fest, dass selbst die Fingerspitzen, mit denen sie
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