Ostfriesensünde
Abgründiges?
Ich muss die Sache klären, sagte sie zu sich selbst. Es wird
unerträglich. Ich muss es für mich tun. Ich brauche endlich Klarheit.
Es war ein Rohbau in Süderneuland. Ein Einfamilienhaus mit Doppelgarage. Die Mauern waren noch unverputzt.
Peter Grendel kannte den Bauherrn gut. Er hätte ihn fragen können, es war praktisch ein Freund von ihm, wie er Ann Kathrin mehrfach versichert hatte. Aber sie war strikt dagegen, jemanden einzuweihen.
Der Tag hatte trotz Nordwestwind schwül begonnen, aber jetzt trieb ein warmer Sommerregen die Menschen von den Terrassen und Biergärten in die Häuser.
Durch die aufsteigenden, feuchtwarmen Luftmassen hatten sich über dem Südosten der Stadt Norden zwei große Gewitterwolken aufgebaut, die jetzt miteinander zu wetteifern schienen, welche von ihnen die längsten Blitze nach unten schicken konnte.
Es war Peter Grendel ganz recht, als er mit seinem gelben Lieferwagen mit der Aufschrift »Eine Kelle für alle Fälle« vor dem Neubau hielt. Er hatte schon alles vorbereitet und wollte schnell im Schutz der dichten Regenfäden ins Haus huschen, aber er hatte Ann Kathrins Vorliebe für Regengüsse und Gewitter unterschätzt. Sie stieg zwar aus, kam aber nicht zum Haus.
Hoch über ihnen fand jetzt eine elektrische Entladung statt, deren Heftigkeit selbst Peter Grendel zusammenzucken ließ. Der Blitz gabelte sich. Eine Spitze zielte auf Osteel, die andere spaltete einen Kastanienbaum beim Motodrom in Halbemond.
Ann Kathrin nahm das Gewitter als gutes Zeichen. Etwas würde sich klären.
Sie stand mit dem Rücken an Peters Wagen gelehnt und reckte dem Regen ihr Gesicht entgegen. Sie schloss die Augen, öffnete aber den Mund weit. Ja, sie wollte die Natur spüren! Genau das brauchte sie jetzt, um sich zu erden.
Die Regentropfen vereinigten sich zu kleinen Wasserfällen, die von ihrem Kinn auf den Kehlkopf prasselten und im Rand ihres T-Shirts versickerten.
Peter Grendel konnte Ann Kathrin an der Beifahrerseite des Lieferwagens von seinem Standort aus nicht sehen. Er rief: »Ann Kathrin! Was ist?«
Als er nichts von ihr hörte, lief er zum Fahrzeug zurück. Als er sie sah, hatte er das Gefühl, sie bei einer sehr intimen Handlung zu beobachten. Er wollte schon wieder umdrehen. Fast hätte er »oh, Entschuldigung« gesagt, als sei er versehentlich in ein falsches Hotelzimmer eingetreten, in dem sich gerade eine Dame zurechtmachte.
Aber ohne die Augen zu öffnen und obwohl der laute Regen alle anderen Geräusche schluckte, nahm sie seine Anwesenheit wahr.
»Ich komme, Peter«, sagte sie. »Es kann losgehen.«
Gemeinsam liefen sie über vom Bagger zerfurchten Lehmboden zum Haus.
Obwohl Ann Kathrins Kleidung nass war, fror sie nicht.
Peter Grendel wischte sich Tropfen vom Gesicht und zeigte auf eine Kühlbox, neben der zwei Thermoskannen standen.
»Sollen wir uns erst mal stärken? Rita hat dafür gesorgt, dass wir nicht verhungern.«
Ann Kathrin hätte gern zugegriffen, war aber dafür innerlich schon zu intensiv mit dem beschäftigt, was gleich passieren sollte. Sie hatte Sorge, jetzt keinen Bissen herunterzubekommen.
»Später wirst du dich ärgern«, sagte Peter Grendel.
»Vermutlich«, antwortete Ann Kathrin. »Wo machen wir es?«
Peter Grendel ging vor in einen Raum, der später einmal die Heizung beherbergen sollte. Ann Kathrin sah sich um.
»Da kann dir nichts passieren«, versprach Peter Grendel. »Luft kommt durch den Versorgungsschacht da. Außerdem kannst du das Fenster öffnen, falls … «
Ann Kathrin winkte ab. »Nein. Das ist der falsche Raum. Keine Fenster. Keine Luftschächte.«
Peter Grendel versuchte, sie zu überzeugen: »Aber der ist klein und rasch zugemauert.«
Er sah ihr gleich an, dass er keine Chance hatte, sie umzustimmen.
Sie entschied sich für die fensterlose Nordwand im Wohnzimmer, gegenüber vom Kamin.
»Da, so ähnlich sah es aus«, sagte sie und zeigte Peter, wo er die zusätzliche Wand bauen sollte. Dann hockte sie sich auf den Boden und sah ihm zu. Seine Handgriffe waren sicher und präzise. Er arbeitete konzentriert mit 24 -cm-Kalksandsteinen. Er benutzte einen Schnellbinder und erklärte: »Das ist Sulfadur-Zement mit hoher Anfangsfestigkeit und Kiessand im Mischverhältnis zwei und eins. Zwei Anteile Sand. Ein Anteil Zement.«
Seine Sachlichkeit tat ihr gut. Er vermittelte ihr, dass er genau wusste, was er tat.
»Ich rühre den Mörtel mit Wasser und einem Mischöl an. Das ist ein Luftporen bildendes
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