Ostfriesensünde
dem Tisch stehen.
Ich habe nichts von ihm, dachte sie. Weder den Namen, unter dem er lebt, noch eine Adresse. Ich weiß nicht, mit welchem Fahrzeug er gekommen ist. Aber er hat mir nicht alles gesagt, was er weiß.
Als sie das Wasserglas wegräumte, begriff sie, warum er nicht daraus getrunken hatte. Er wollte keine Fingerabdrücke hinterlassen. Deswegen lagen seine Hände ständig auf seinen Knien. Daher seine merkwürdigen Gesten wie ein Raucher, der die Zigarette zwischen den Fingern vermisst. Er war peinlich darauf bedacht gewesen, nichts anzufassen.
Er ist mir haushoch überlegen, dachte sie. Und er hat eine Scheißangst, dass man ihn finden könnte.
Dann begann sie jämmerlich zu weinen.
»Ansgar! Ansgar! Wo bist du? Hast du mich im Stich gelassen? Glaubt deine Mama dir nicht? Ansgar, du bist meine einzige Hoffnung! Hab ich dich nur geträumt? Bist du gar nicht wirklich dagewesen? Das kann doch nicht sein … «
Sie erlebte einen innerseelischen Zusammenbruch. Sie sah
sogar ein Bild vor sich, wie eine Pyramide, die nach innen stürzte.
Das konnte doch nicht sein. Das war doch wohl die schlimmste Ironie des Schicksals. Ihr ganzes Leben hing von einem kleinen Jungen ab. Einem Jungen, der sich nicht traute, seinen Eltern zu erzählen, wo er gerade gewesen war.
Sie begann zu beten. Lieber Gott, gib Ansgar Kraft. Lieber Gott, mach einen mutigen Jungen aus ihm. Lieber Gott, gib, dass er eine verständnisvolle, kluge Mutter hat. Lieber Gott, du hast mir Ansgar geschickt. Nun gib ihm auch die Kraft, die Sache durchzustehen.
Ann Kathrin lief die Holztreppe hoch in das Zimmer, in dem ihr Ehemann Hero früher seine Therapiestunden abgehalten hatte und das heute ganz dem Andenken ihres Vaters gewidmet war. Es sah aus wie ein Arbeitszimmer in einer beliebigen Polizeiinspektion. Schreibtisch, Drehstuhl, Aktenschränke, aber Weller hatte einmal kritisch angemerkt, dass es hier keinen Platz für eine zweite Person gab, keinen weiteren Stuhl, und das Sofa in der Ecke war vollgepackt mit alten Zeitungen und Illustrierten. In allen Berichte vom Banküberfall und vom Tod ihres Vaters.
An den Wänden Fotos und die letzten Sekunden bis zum tödlichen Schuss. Sie hatte sogar Abschriften der Funkkontakte der Kollegen untereinander. Sie wusste genau, wer wo gestanden und was gesagt hatte. Aber die Aussage von Beukelzoon warf viele Ideen und Überlegungen über den Haufen.
Mit zusammengekniffenen Lippen tippte Ann Kathrin bei Google Begriffe ein und durchsuchte das Internet nach Hinweisen.
»Firma Hot Pants«. »Stenger«. »Frauenhandel«. »Ludwig Stein«. »Wilhelm Beukelzoon«.
Immer wieder kam Gelsenkirchen vor. Ein Rollstuhlfahrer berichtete in einem Forum, er habe über die Firma »Hot Pants«
seine Ehefrau kennengelernt, er sei glücklich und sie auch. Herr Stein hätte sie in Thailand erst freikaufen müssen, weil sie Schulden hatte, dafür habe er eine Hypothek auf sein Haus aufgenommen. Der klügste Schritt seines Lebens, besser habe er sein Geld nie angelegt.
Über einen Verweis auf eine Kneipe in Rotthausen, wo die Hochzeitsfeier stattfand, gelangte Ann Kathrin zu den »Gelsenkirchener Geschichten«. Dort gab es mehrere Threads zu Kneipen, Personen und Ereignissen. Mehr als tausend Menschen schrieben darin über ihre Kindheit und Jugend in Gelsenkirchen.
Rasch warf Ann Kathrin einen Blick auf ihr altes Gymnasium. Das Grillo.
Sie suchte unter »Verbrechen«, »Prostitution«, »Menschenhandel«, »Banküberfall«, »Geiseltod«. Unter all dem Müll und Dreck befürchtete sie, ihren Vater zu finden.
Von einem besonders üblen Zuhälter war die Rede, der Zwangsprostituierte »eingeritten« habe.
Ihr Magen krampfte sich zusammen. Sie hob die Füße vom Boden und stellte sie auf den Drehstuhl. Wie ein fluchtbereites Huhn hockte sie da und pickte im Internet nach Körnern.
Dann, ein paar Seiten weiter, erfuhr sie das Alter des Zuhälters und dass er kleinwüchsig war. Sie war erleichtert und erwischte sich bei der irren Vorstellung, dass sie für einen Moment Angst gehabt hatte, ihr Vater sei dieser Zuhälter gewesen.
Sie stand auf und ging zielstrebig zu den Bildern ihres Vaters. Sie rückte eines an der Wand zurecht, obwohl es gar nicht schief hing. Aber sie musste jetzt wenigstens ein Porträt von ihm berühren, wie um sich bei ihm zu entschuldigen.
Gleichzeitig nahm sie einen unbekannten Zug um seine Lippen wahr, etwas, das ihr bisher nie aufgefallen war. Hatte sein Lächeln nicht auch etwas
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