Ostfriesensünde
Hunger auf die Hähnchenschenkel.
Inzwischen hatte Weller die Eltern von Judith Harmsen auch ohne Ruperts Mithilfe ausgemacht. Es hatte in der letzten Woche zwölf Vermisstenanzeigen in Ostfriesland gegeben.
Ein verwirrter Rentner war aus einem Seniorenheim in Hage weggelaufen, wurde aber am nächsten Tag in Lütetsburg beim Schlosspark gefunden, dort, wo gerade Bagger das Gelände für einen Golfplatz umgruben.
Drei Touristenkinder hatten in Norddeich einen Großeinsatz ausgelöst, weil sie angeblich im Watt verschwunden waren, sie hatten aber nur im Diekster Köken ein Eis gegessen.
Vier pubertierende Jugendliche hatten die spießigen Ferienwohnungen ihrer Eltern verlassen und waren auf ihren Rädern nach Holland gefahren, um in Groningen im Coffeeshop mal so richtig einen durchzuziehen.
Zwei Ehefrauen hatten es nicht mehr länger bei ihren Männern ausgehalten. Die eine kam reumütig von alleine zurück, die andere reichte von Köln aus die Scheidung ein.
Ein Familienpapi aus Oldenburg ersäufte seinen Kummer und wurde mit einer Alkoholvergiftung im Park gefunden. Er hatte mit seinem Arbeitsplatz offensichtlich auch sein Gedächtnis verloren und wusste nicht, wo er in den letzten beiden Tagen gewesen war.
Ja, und dann war da noch Judith Harmsen. Ihr VW Polo stand ordnungsgemäß geparkt, aber unverschlossen, auf dem Parkplatz neben der Bücherei in Ganderkesee. Jemand hatte die Nummernschilder abmontiert.
Weller beschloss, sich die Sache vor Ort anzusehen. Huberkran wollte die Notwendigkeit nicht einsehen, aber Weller blieb hart: »Eine Frau aus Bremen besucht ihre Eltern in Delmenhorst. Sie fährt von dort zu einer Autorenlesung nach Ganderkesee
und kommt nicht zu ihren Eltern zurück. Sie taucht auch nicht in ihrer Wohnung in Bremen auf. Aber ihr Wagen steht unverschlossen und mit zerstochenen Reifen vor der Bibliothek. Also für mich sieht das ganz so aus, als ob … «
» … der Autor sie abgeschleppt hätte«, spottete Huberkran. »Mensch, Frank, die machen in irgendeinem Hotel Gymnastik … «
Weller ging auf den versuchten Scherz nicht ein. »Wir haben die Hotels der Umgebung abgefragt. Der Autor hat im Oldenburger Hof geschlafen.«
»Na, dann sind sie eben nicht in einem Hotel, sondern in irgendeiner Studentenbude oder WG . Da vögelt er sie jetzt in allen Stellungen, bis sie beide nicht mehr können, und wenn den beiden klar wird, dass es dadraußen noch eine Welt gibt, mit anderen Menschen und Verpflichtungen, dann werden sie reumütig zurückkehren. Sie zu ihren Eltern und er … «
»Er hat morgens schon um sechs Uhr alleine im Hotel gefrühstückt, weil er weitermusste zu einer Veranstaltung in Meran«, sagte Weller sachlich.
Huberkran schlug sich mit der rechten Faust in die linke Handfläche. »Nach Meran? Ein Leben haben diese Typen!«
Weller entnahm aus Huberkrans Reaktion nicht nur, dass er neidisch auf den Autor war, sondern vor allen Dingen, dass er selbst seit langem keinen guten Sex mehr gehabt hatte. Das unterscheidet uns, dachte Weller, aber er behielt seine Gedanken für sich.
»Mensch, Weller. Wir müssen planvoll und koordiniert vorgehen. Jetzt kann nicht einfach jeder tun, was er für richtig hält.«
»Ja, soll ich tun, was ich für falsch halte?«
Huberkran stöhnte. Er zählte es an den Fingern auf: »Ann Kathrin lässt sich einmauern, und du läufst wahllos jeder Vermisstenmeldung hinterher! Es gibt nicht den Hauch eines Hinweises, dass diese Frau Harmsen dem Maurer in die Hände gefallen
ist. Wir haben täglich Hunderte ähnlicher Fälle im ganzen Land. Vielleicht hat der Typ schon vor Jahren aufgehört. Wir haben keine Veranlassung zu glauben, dass er im Moment aktiv ist.«
Weller zeigte mit dem Finger auf Huberkran. »Komm mir nicht so. Warum denn dann die ganze Hektik, wenn wir nicht befürchten, dass er weitermacht? Ich fahre jetzt jedenfalls nach Delmenhorst und Ganderkesee.«
Ann Kathrin schwitzte und fror gleichzeitig. Sie saß auf dem Boden, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, die Arme ausgestreckt, so dass ihre Finger die Steine berührten.
Es war stockfinster. Durch das Luftloch drang kein Licht in den Raum.
Noch nie hatte Ann Kathrin sich in solcher Finsternis befunden. Es war ein erschreckendes Erlebnis. Es machte keinen Unterschied, ob sie die Augen öffnete oder geschlossen hielt. Sie sah nichts.
Wie oft hatte sie nachts in ihrem Garten gestanden und die unterschiedlichen Schwarztöne bewundert. Selbst in der Nacht warfen die
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