Ostfriesensünde
der SOKO Maurer. Wir sind eine Mordkommission. Das ist eher etwas für unsere Leute vom Betrugsdezernat. Hast du die mal angerufen?«
»Typisch Beamter!«, stellte Weller trocken fest. »Leugnet erst mal die Zuständigkeit.«
Ann Kathrin stand jetzt mit dem Gesicht so nah an der Mauer, die Peter Grendel neu eingezogen hatte, dass ihre Nasenspitze den feuchten Mörtel berührte. Sie spreizte die Finger und drückte sie gegen die Kalksandsteine. Manchmal, wenn sie Sachen berührte, war es, als ob sie ihr eine Geschichte erzählen würden, als könne sie die Dinge mit den Händen begreifen. Aber hier spürte sie zunächst nichts, und genau das ließ sie weinen. Es war ein Tränenfluss, der ihr guttat. Sie ließ die Tränen laufen und stöhnte.
»Ist was, Ann Kathrin? Soll ich den Hammer schwingen?«
»Nein, Peter. Alles ist gut.«
»Das hört sich aber nicht so an.«
»Ich … ich komme gerade in Kontakt mit einer Eiseskälte.«
Peter Grendel wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ihm war überhaupt nicht kalt. Am liebsten hätte er sie sofort herausgeholt, und das sagte er auch. Aber Ann Kathrin lehnte zornig ab.
»Es ist die Eiseskälte in mir selbst, an die ich gerate. Das ist es, was er tut. Er wirft seine Opfer ganz auf sich selbst zurück. Ich muss zum Beispiel die ganze Zeit an meinen Vater denken. Ich habe alles getan, um seinen Mörder zu fangen. Alles! Aber
ich habe es einfach nicht geschafft, und jetzt glaube ich, dass ich ganz nah davorstehe und vor lauter Bäumen den Wald nicht sehe. Ich lass mich hier auf diese Scheiße ein, statt … «
Sie hämmerte mit ihrer Stirn gegen die Mauer. Der Schmerz tat ihr gut.
»Ich glaube, das Geheimnis ist in Gelsenkirchen begraben.«
»Da, wo dein Vater erschossen wurde?«
»Ja, genau dort. Er hat dort als verdeckter Ermittler gearbeitet. Zusammen mit einem Kollegen sollte er dort einen Mädchenhändlerring auffliegen lassen, aber weißt du, Peter, was ich tief in mir befürchte? Je näher ich meinem Vater komme, umso mehr erfahre ich Dinge über ihn, die ich eigentlich gar nicht wissen wollte. Was mache ich denn, wenn sich herausstellt, dass er nicht der nette, liebe Bulle war, sondern korrupt und triebhaft? Was, wenn er wirklich mit Frauen gehandelt hat und auf den Geschmack gekommen ist? Ich habe bei jedem Schritt, den ich tue, Angst, etwas Schreckliches über ihn zu erfahren. Das ist es auch, was meine Ermittlungen bremst. Einerseits mache ich alles mit Volldampf, andererseits bremse ich aus Angst vor einer Bauchlandung selbst ab. Ich habe mich im Internet in einem Forum angemeldet. Es heißt »Gelsenkirchener Geschichten«. Es ist eine schöne Idee. Eine spannende Seite. Die Leute erzählen Geschichten über ihre Stadt, über Persönlichkeiten, die sie geprägt haben, vom Penner bis zum Fußballstar. Sie schreiben über Kneipen, Imbissbuden, eine Literarische Werkstatt, ja, über Straßenzüge, Lebensmittelläden, die geschlossen haben … Die Threads über die Schulen solltest du lesen. Jeder Lehrer kriegt da sein Fett ab und … und ich durchsuche das alles nach Hinweisen auf meinen Vater, und immer bin ich voller Hoffnung und Angst zugleich. Die schreiben natürlich auch über Verbrechen und ob einer weiß, was aus dem und dem wurde, und ich, ich habe Angst, da steht irgendwo in einem Thread ein Bericht einer Frau, die von
meinem Vater verkauft wurde und die ihn anklagt und … « Sie wischte sich die Nase ab. » … und ich fühle mich so hilflos. So ausgeliefert.«
»Und warum«, fragte Peter Grendel, »warum fragst du in den Gelsenkirchener Geschichten nicht einfach nach, wer deinen Vater kannte und etwas über seinen Tod weiß?«
Ann Kathrin zuckte zusammen. Sie kannte den Ausdruck, jemand fühlte sich wie vom Blitz getroffen. Jetzt wusste sie, was damit gemeint war.
Ja, warum hatte sie das nicht längst getan? Zu Hause an ihrer Wand im Arbeitszimmer hingen Fotos, Gesprächsprotokolle, Aufzeichnungen vom Überfall auf die Bank. Sie hatte das Ereignis in Sekunden zerlegt, sie wusste genau, wann was geschehen war, bis ihr Vater erschossen wurde und seine Mörder in einem Rettungshubschrauber mit der Beute flohen.
Ja, sie wusste alles, aber sie behielt es für sich.
Als müsse sie sich nachträglich rechtfertigen, weil sie nicht selbst daraufgekommen war, sagte sie: »Ich kann doch nicht einfach eine … eine Art öffentliche Fahndung im Internet machen. Das verstößt gegen Persönlichkeitsrechte und … und außerdem ermittle ich in
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