Ostfriesensünde
Gäste nicht sofort begrüßte.
Sie wusch sich ihr Gesicht am Waschbecken und versuchte vergeblich, die Haare in eine bessere Form zu bringen. Mit ein bisschen Tagescreme, Lippenstift und Wimperntusche konnte sie übertünchen, wie fertig sie in Wirklichkeit war.
Sie drehte die Dusche ab, atmete tief durch und begab sich ins Wohnzimmer.
Weller und Huberkran hatten Anne Will mitgebracht. Sie trug ein sandfarbenes Kostüm, schwarze Nylons von Wolford und ihr Gesicht war vom Ehrgeiz verhärtet.
Huberkran stellte sie vor und fragte dann in ihrem Beisein, ob die Einmaueraktion etwas gebracht hätte.
Weller sah peinlich berührt auf seine Espressotasse. Ann Kathrin fand Huberkrans Gesprächsanfang unmöglich, aber sie überspielte ihre Empörung geschickt. Immerhin hatte er ihr Beukelzoon gebracht und jetzt Anne Will die andere. Sie wollte ihn als Bündnispartner nicht verlieren.
Ann Kathrin sprach aber nicht, sondern sah demonstrativ zu Anne Will.
Huberkran erklärte: »Sie ist eingeweiht. Deine Methode interessiert sie natürlich – aus psychologischer Sicht. Du erzählst ihr etwas und sie dir. Es bleibt natürlich alles unter uns. Nichts, was hier gesagt wird, wird je diesen Raum verlassen.«
Ann Kathrin bezweifelte das zwar und glaubte in Anne Wills Augen schon die Idee zu erkennen, das Ganze als kuriose neue Art der Ermittlung in einer Fachzeitschrift zu veröffentlichen. Aber sie wollte die Chance, mehr über die Arbeit ihres Vaters als Zielfahnder zu erfahren, nicht ungenutzt lassen.
Sie richtete sich auf und wirkte dadurch ein bisschen steif, als sie zu sprechen begann.
»Es hat einiges gebracht. Wir wissen jetzt mehr als vorher. Wir müssen davon ausgehen, dass er all seine Opfer kannte.«
Huberkran unterbrach Ann Kathrin sofort. »Es gibt keine Verbindung zwischen den betroffenen Familien. Sie sind sich alle nie begegnet.«
Ann Kathrin bekräftigte ihre Aussage: »Er kennt sie gut. Zumindest so gut, dass er ein intimes Geheimnis von ihnen kennt. Er will sie zum Sprechen bringen. Sie sollen etwas gestehen, sich entblößen, Buße tun. Irgend so etwas. Er glaubt, ein Recht zu haben, das zu tun, ja, vielleicht sogar eine Pflicht. Er hat die Nähe zu einer Baufirma. Wir müssen alles in Betracht ziehen. Er kann der Chef sein oder in den Semesterferien dort ein paar Euro verdienen. Er beherrscht ein ehrliches Handwerk und kämpft damit gegen eine Unehrlichkeit, eine Lüge. Etwas stimmt nicht mit diesen Frauen.«
Huberkran empörte sich demonstrativ vor Anne Will: »Jetzt gehen Sie aber zu weit, Ann Kathrin!«
Anne Will registrierte, dass er Ann Kathrins Vornamen benutzte, sie aber siezte, eine unter Polizeikollegen eher ungewöhnliche Form der Anrede. Meist gab es das »Arbeits-Du«.
»Wenn Sie so sprechen, dann hört sich das an, als würden wir den Opfern eine Mitschuld geben. Das hat einen üblen Beigeschmack. Ich will solche Sätze nicht in der Zeitung lesen.«
»Ich gebe hier ja auch kein Interview. Die Opfer sind dadurch, dass sie Opfer sind, noch keine besseren Menschen geworden«, belehrte sie Huberkran. »Beim Hamburger Zuhälterkrieg wurde
auch keiner nachträglich zum guten Jungen, nur weil er neun Millimeter Blei zwischen den Augen hatte.«
Das ganze Gespräch war Weller zu zickig. Es hatte für sein Gefühl zu viele Spitzen, und da war etwas Vorwurfsvolles im Ton.
Ann Kathrin fuhr fort: »In den Augen des Täters haben sie jedenfalls Schuld auf sich geladen. Sie sollen sich daran erinnern und dann bereuen. Vielleicht hat er Opfer, die seiner Meinung nach richtig bereut haben, wieder frei gelassen. Wir sollten nach solchen Ereignissen suchen, obwohl ich es für unwahrscheinlich halte, dass die Opfer ihn angezeigt haben. Das Ganze wird eher so etwas Geheimes zwischen ihnen sein.«
Anne Will brachte sich ins Gespräch: »Das Opfer schützt den Täter. Wir kennen das vor allen Dingen bei familiärer Gewalt, Missbrauch oder Beziehungsdelikten.«
Niemand ging auf diese Selbstverständlichkeiten ein.
Ann Kathrin sagte: »Es gibt meiner Erfahrung nach nur zwei Sorten von Serienmördern. Die einen wollen Grenzen überschreiten und die anderen Grenzen setzen. Mit was für einer Art Killer haben wir es hier zu tun?«
Ann Kathrins Aussage war für Anne Will von so erschütternder Klarheit und Präzision, dass sie nur mühsam den Wunsch unterdrücken konnte, ihren Notizblock zu zücken und mitzuschreiben.
Ann Kathrin fuhr fort: »Unser Mann will Grenzen setzen, was er schon allein durch die
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