Ostfriesensünde
Bruder denn gewonnen?«, fragte Harry merkwürdig anzüglich, als sei Ann Kathrin selbst der Preis.
Angesichts seiner gelben Zähne hätte sie zu gern geantwortet: »Eine professionelle Zahnreinigung«, aber stattdessen sagte sie nur: »Das möchte ich ihm gerne selber verraten.«
Jetzt stellte Harry sich breitbeinig hin und öffnete die Tür einladend. »Hömma, Mutta, mein Bruder is schon lange nich mehr unter uns.«
Damit hatte Ann Kathrin nicht gerechnet.
Harry drückte sich den Zeigefinger wie den Lauf einer Waffe gegen die Stirn und drückte ab. »Bauwh! Der hat sich das
Gehirn weggepustet, der Arsch. So, und jetzt erzählst du mir mal, was du wirklich willst, Torte. Ich glaub dir nämlich kein Wort!«
Ann Kathrin wich einen Schritt zurück. Sie hatte, als sie kam, zunächst nicht vorgehabt, sich als Polizistin zu outen. Jetzt tat sie es. Sie zog ihren Ausweis, hielt ihn gut sichtbar hin und sagte: »Ann Kathrin Klaasen, Kripo. Ich ermittle in einem Mordfall.«
Sie erwähnte nicht, dass sie von der Kripo Aurich war, denn der Typ sah zwar dämlich aus, aber sie befürchtete, dass er in solchen Sachen sehr bewandert war. Garantiert wusste er, dass Polizei Ländersache war und sie in NRW nichts zu suchen hatte.
Er schob die Hüften vor und drückte die Knie durch. Leider trug er keine Hosenträger, sonst hätte er sie jetzt selbstbewusst mit den Daumen vom Bauch gezogen. Er machte die Geste, hatte aber nichts, um sich daran festzuhalten.
»Das ist doch alles Schnee von gestern. Was glauben Sie, was wir alles versucht haben, um zu beweisen, dass es Mord war. War es aber nicht, denn bei Selbstmord muss die Versicherung nicht zahlen. Glauben Sie, ich würde sonst hier wohnen? Ich hätte längst ’ne schicke Eigentumswohnung in der Zeppelinallee.«
Ann Kathrin realisierte erst jetzt, dass hier nicht etwa eine Spur abbrach, sondern endlich eine begann. Die Tatsache, dass Stämmler tot war, machte die Geschichte wahrscheinlicher. Alles hatte auf einmal eine mörderische Schlüssigkeit.
Volker Bogdanski, ein Zuhälter aus Hamburg, der in Wilhelmshaven zusammen mit seiner philippinischen Ehefrau einen Esoladen betrieben hatte und an dem Überfall auf die Sparkasse in Gelsenkirchen beteiligt war, wurde kurze Zeit später auf dem Kiez erschossen. Angeblich ging es um eine russische Prostituierte.
Isolde Klocke, ihre Mutter, Ann Kathrins Vater und der Pilot Stämmler.
War der Fall nie aufgeklärt worden, weil einer der Beteiligten alle anderen umgebracht hatte?
Eins war klar: Harry Stämmler hatte von der Beute nichts mitgekriegt. Es war wenig wahrscheinlich, dass sein Bruder ihn in alles eingeweiht hatte, aber immerhin wusste er von der Beteiligung am Überfall. Oder war alles nur ein Hirngespinst? War Harry Stämmler ein Angeber und reimte sich eine Geschichte zusammen, um sich interessant zu machen?
Es gab nur einen Menschen, von dem Ann Kathrin mit Sicherheit wusste, dass er am Überfall beteiligt war. »Kennen Sie einen Volker Bogdanski?«
Harry Stämmler verengte die Augen zu Schlitzen. »Volki, die arrogante Mistsau?«
Ann Kathrin wurde von einem warmen Schauer durchrieselt. Sie trat fest mit ihrem rechten Fuß auf. Am liebsten hätte sie sich in den Arm gekniffen, um sich zu vergewissern, dass sie nicht träumte.
»Nun kommen Sie schon rein!«, schlug Harry Stämmler vor und ging einfach voran. Er kratzte sich am Hintern.
Drinnen bückte er sich und tastete suchend den Boden unter der Matratze ab, da, wo zwei Bierflaschen standen und ein voller Aschenbecher.
»Ich such die geselligen Hülsenfrüchte. Vorsicht, nicht drauftreten.«
»Was suchen Sie?«
Genervt antwortete er: »Meine Kontaktlinsen. Nun kommen Sie schon rein oder wollen Sie lieber noch länger so doof im Flur rumstehen?«
»Ich würde Sie lieber zu einem Kaffee einladen.«
Er drehte sich wieder zu ihr um und aus der Tiefe seines Dreiundvierzig-Quadratmeter-Lochs antwortete er: »Okay.«
Dann stieß er mit der Fußspitze die Tür zu.
Ann Kathrin wartete geduldig. Wenn er Bogdanski kannte, dann hatte sie endlich eine Verbindung.
Zwei Minuten später erschien Harry in einem silbergrauen Trainingsanzug mit blauen Streifen, die Jacke offen und darunter das Hemd mit den ostfriesischen Inseln. Dazu trug er Badelatschen.
Das ungleiche Pärchen ging nebeneinander her in die Arminstraße ins Café Pabst. Bei jedem Schritt schlappten seine Latschen gegen die Fußsohlen und machten ein Geräusch, als würde ein Insekt mit einer
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