Ostseefluch
dämmrigen Kühle in den aufgeheizten Hof trat, blinzelte sie überrascht. Sie hatte Felix an der Hand, der neuerdings darauf bestand, den Weg vom Auto zum Haus auf seinen eigenen Beinen hinter sich zu bringen. Alle drei Meter ging er in die Hocke, um den Untergrund zu untersuchen und kleine Steine oder Stöcke aufzuheben. In der anderen Hand trug Pia eine Einkaufstasche, gefüllt mit den Lebensmitteln, die sie bei einem eiligen Beutezug durch den Supermarkt ergattert hatte. Sie freute sich auf Tortellini mit Ricottafüllung und ihrer Spezial-Tomatensoße. Das viele kalte Essen, das sie während der heißen Tage zu sich genommen hatte, hing ihr allmählich zum Hals raus.
Lars Kuhn stand an die Hauswand gelehnt da. Er hatte sein Mobiltelefon am Ohr, und als er Pia näher kommen sah, nickte er ihr andeutungsweise zu. Er lächelte nicht. Warum auch? Wenn Pia sich recht erinnerte, hatte sie ihn das eine Mal, als sie verabredet gewesen waren, kurzfristig versetzt. Felix war krank geworden. Ein paar Tage lang war sie rund um die Uhr damit beschäftigt gewesen, Gespucktes aufzuwischen, Wäsche zu waschen, Tee zu kochen und Windeln zu wiegen. Sie hatte akribisch aufschreiben müssen, was in ihr Kind rein- und was wieder rausgegangen war ... Rota-Viren. Sie war fast verrückt geworden vor Sorge, weil Felix kurz davorgestanden hatte, im Krankenhaus an einen Tropf gehängt zu werden. Aber das war schon einige Zeit her.
Und danach? Zwei Wochen später, als sich die Lage wieder normalisiert hatte, hatte Pia ein paar halbherzige Versuche unternommen, Lars zu erreichen – vergebens. Jedes Mal war nur seine Mobilbox angesprungen, auf der Pia keine Nachricht hinterlassen hatte. Dann hatte sie noch ein kurzes Telefonat mit Stella geführt, seiner Mitarbeiterin in der Agentur, bei dem sie um Rückruf gebeten hatte. Der war nicht erfolgt. Ende der Geschichte. Sich einzureden, dass es so viel besser sei, war Pia bei dem Stress der letzten Monate nicht allzu schwergefallen.
Lars klappte sein Telefon zu und steckte es in die Tasche seiner Jeans. »Hi, Pia.« Er musterte sie, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Das letzte Mal, als wir uns gesehen haben, hattest du Handschuhe und Winterstiefel an.«
Und noch einiges andere, um genau zu sein. Pia fiel nichts Unterhaltsameres ein, was sie sagen könnte. Der Tag war anstrengend gewesen, ihr Kopf wie leer gefegt. Kennengelernt hatte sie Lars bei einer polizeilichen Untersuchung. Danach waren sie sich zufällig noch einmal in Lübeck in einer Bäckerei über den Weg gelaufen und zusammen spazieren gegangen. Wieder spürte Pia die gleiche Anziehung wie damals, atmosphärisch gestört von der Einsicht, dass er einfach zu attraktiv war ... für einen Mann. Die altbekannte Warnleuchte in ihrem Kopf sprang an: Blink-blink-blink – Hände weg, Pia!
Felix streckte dem ihm unbekannten Mann seine Hand mit dem Papierfetzen entgegen, den er gerade aufgelesen hatte.
Lars ging in die Hocke und sah sich das Kaugummipapier eingehend an. »Sehr hübsch grün«, meinte er. »Felix, kannst du deiner Mutter bei Gelegenheit sagen, dass ich gern mal wieder mit ihr spazieren gehen würde?« Er richtete sich auf. »Ich war gerade bei einem neuen Kunden, der hier um die Ecke sein Büro hat. Da dachte ich mir, ich schau mal, ob du noch lebst.«
Pia spürte, wie ihr eine Schweißperle zwischen den Brüsten hindurch den Bauch herunterrann. Eigentlich lebte sie nur noch gerade so. Und so sah sie wahrscheinlich auch aus. Er hingegen schaute frisch aus, und er roch auch noch gut. Nettes Duschgel. »Zu welchem Schluss kommst du?«, fragte sie.
Er schien kurz abzuwägen, wie viel Ehrlichkeit ihre quasi nicht vorhandene Beziehung vertrug. Pia warf einen prüfenden Blick in den angrenzenden Garten. Wenn Susanne sie hier mit Lars stehen sah, würde es wieder Grundsatzdiskussionen bis weit nach Mitternacht über ihr nicht vorhandenes Sexleben geben. Im Sommer war das Leben im Gängeviertel irritierend öffentlich. Wie auf einem Campingplatz.
Lars sah sie direkt an. »Na ja. Wie es aussieht, lebst du gerade eben noch.«
»Wir haben gestern einen neuen Fall hereinbekommen«, sagte sie. »Das hinterlässt manchmal Spuren – bei mir, meine ich.«
»Der Mord auf Fehmarn?«
»Es handelt sich um eine junge Frau, gerade mal achtzehn. Sie wurde in ihrem Garten erschlagen.«
»Ich hab davon im Radio gehört.«
Felix begann, in der Einkaufstasche zu graben. Pia beugte sich zu ihm herunter, um einen Sahnebecher zu retten, der
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