Ostseefluch
Vorwürfe leid, mit denen er sie überschüttet hatte. Und dann hatte er sie auch noch geärgert. »Hör mal! Arne fährt gerade weg. Da kannst du ihm heute gar nicht mehr schöne Augen machen«, hatte er gestichelt.
»Du spinnst, Patrick. Und selbst wenn! Ich bin nicht dein Eigentum.«
»Ohne mich würdest du jetzt unter ’ner Brücke schlafen. Oder längst in irgendeinem Bordell anschaffen gehen.«
Daraufhin war sie wortlos aufgestanden. Dass er sein Wissen, das Geheimnis, das sie ihm anvertraut hatte, gegen sie verwendet hatte, war mies von ihm gewesen. Aber sie hatte einen auch wahnsinnig machen können mit ihrem Rehblick. Er hatte anfangs noch gedacht, dass es einfach wäre, sie zu beeinflussen. Doch mit vernünftigen Argumenten hatte man bei ihr nichts ausrichten können. Dafür war sie zu stur gewesen. Jedenfalls, wenn es um die Sache mit ihrem Vater ging.
»Hey, wo bist du mit deinen Gedanken?«, hörte er Arne jetzt fragen. Patrick zuckte zusammen. »Ich brauche den Dreizehner Maulschlüssel.«
Wortlos reichte ihm Patrick das Werkzeug.
Als Arne fertig war, erhob er sich ächzend und musterte seinen Helfer abschätzend. »Du vermisst das Mädchen, was?« Er hob unbehaglich die Schultern. »Das Einzige, was da hilft, ist harte Arbeit.«
»Tu bloß nicht so!«, entfuhr es Patrick. Was sollte das? Kehrte er plötzlich den väterlichen Freund raus, oder was? Den konnte er sich sonst wo hinstecken! »Du vermisst sie doch auch«, fuhr Patrick ihn an. »Ich hab schließlich gesehen, wie du sie immerzu angestarrt hast.«
»Wen ... Milena?« Arnes Hals und dann seine Ohren verfärbten sich langsam rot.
»Nein, die heilige Muttergottes!«
Das Telefon klingelte. Einmal, zweimal, dreimal. Pia fand das tragbare Gerät, als Felix es gerade in der mit Wasser gefüllten Gießkanne versenken wollte, die neben der Küchenzeile für die Balkonpflanzen bereitstand. Sie nahm ihn hoch, tauschte das Telefon gegen einen Schneebesen, der auf der Arbeitsplatte lag, und presste dann mit der anderen Hand den Hörer ans Ohr. »Korittki?«
»Ich bin’s, Tom, dein geliebter Bruder. Du denkst doch noch an die Party, oder?«
»Ich hab Marlene gesagt, dass ich komme, wenn ich jemanden finde, der auf Felix aufpasst.«
»Hast du noch niemanden?«
»Nein. Am Wochenende wollen die Babysitter lieber selbst Party machen.«
»Dann bring ihn doch einfach mit!«
»Glaubst du, er schläft bei euch?«
»Wenn du es nicht ausprobierst, wirst du es nie erfahren, Pia. Du kannst ihn bei uns ins Schlafzimmer legen. Das ist der ruhigste Raum in der Wohnung.«
»Lärm ist nicht unbedingt das Problem«, sagte Pia unentschlossen. Felix schlief auch, wenn ihre Nachbarn gegenüber laut Musik hörten, stritten, bis das Porzellan flog, oder abends um acht mit der Hilti anfingen, das Haus zu renovieren. Wenn sie, Pia, nur in der Nähe war. Sie hatte aber keine Lust, auf einer Party zu sein und dann den ganzen Abend neben Felix’ Reisebettchen zu sitzen, um sich anschließend womöglich die Einschlaftipps »erfahrener« Mütter anzuhören.
»Dann kommst du also? Es ist nämlich wichtig.«
»Wie meinst du das?« Das klang nicht gut. Nicht nach Amüsement. Felix fing an zu strampeln, und Pia setzte ihn wieder ab.
»Du suchst doch eine neue Wohnung. Komm einfach, okay? Um acht geht’s los.«
»Es kann sogar sein, dass ich arbeiten muss«, warf Pia noch ein. Sie hörte selbst, wie lahm das klang.
»Wir erwarten dich«, sagte Tom und legte auf.
Ein paar Sekunden lang kämpfte Pia mit sich, ihn zurückzurufen und definitiv abzusagen. Sie wurde von ihrem Vorhaben abgelenkt, weil Felix sich anschickte, das Blumenwasser zu probieren.
Maren Rosinski spielte die letzten Takte von Arctic Nights von Gilbert DeBenedetti . Ihre Finger verharrten über der Tastatur. Sie lauschte, wie der letzte Ton im Haus verklang. Wieder Stille. Die Ablenkung durch die Musik war nur kurz gewesen. Der »Flow«, wie man es heute nannte, die vollständige Konzentration auf das Klavierspiel, hatte sich nicht eingestellt. Ihre Hände hatten nur eine geübte Abfolge von Griffen abgespult – mechanisch. Ihre Gedanken kreisten immer noch um Milena. Rudolfs Tochter. Rudolfs ermordete Tochter.
Er hatte vorhin angerufen und mit gepresster Stimme erklärt, dass er heute Abend nicht kommen werde. Dass seine Frau ihn brauche. Nun war sie also wieder seine Frau. Judith Ingwers, diese bornierte, dumme, heuchlerische Kuh! Dass das mit ihrer Tochter geschehen war, tat Maren leid. Das
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