Ostseefluch
Seine Gabel mit dem aufgespießten Fleischstück verharrte in der Luft.
»Ja.«
Lars seufzte und legte sein Besteck beiseite. »Guck mal, was wir angerichtet haben.«
Felix starrte mit ängstlich aufgerissen Augen auf seine Mutter. Seine Unterlippe zitterte.
Am nächsten Morgen wurde Pia schon im Polizeihochhaus erwartet.
Irma Seibel saß auf einem Besucherstuhl und studierte die Porträts gesuchter Personen an der Pinnwand gegenüber. »Gut, dass Sie kommen!«, sagte sie und reichte ihr eine kalte, weiche Hand. »Ich muss um zehn wieder in meinem Laden sein. Das wird sowieso schon knapp.«
»Wollen Sie eine Aussage machen? Soll ich noch jemanden dazubitten?«, fragte Pia auf dem Weg in ihr Büro.
»Nicht nötig. Ich will nur mal mit Ihnen reden.«
Sie bot Irma Seibel einen Platz vor dem Schreibtisch an und setzte sich ebenfalls. Es war nicht der gewohnte Start in den Tag. Ein Blick in den Computer, ein Becher Kaffee, ein kurzes Update mit den Kollegen. Dies hier war ein Kaltstart. Pia schob Unterlagen beiseite und versuchte, sich auf ihr Gegenüber zu konzentrieren.
»Ich bin besorgt«, sagte Irma Seibel.
Pia hob die Augenbrauen.
»Es geht um meine Tochter. Und um Milenas Mutter. Es fällt mir schwer, darüber zu reden. Ich bin keine Klatschtante, wissen Sie.«
»Was ist mit Ihrer Tochter?«
»Es ist nichts Konkretes. Ich dachte, Sie verstehen mich vielleicht, obwohl Sie bei der Polizei sind. Weil Sie auch Mutter sind ...«
Oho. Und woher wusste sie das? »Das finden wir nur heraus, wenn Sie mir jetzt sagen, was Ihnen Sorgen bereitet.«
»Es ist der Fluch.« Sie beobachtete Pias Reaktion, und obwohl diese überzeugt war, dass sie keine Miene verzogen hatte, fuhr Irma Seibel sie sofort an: »Gucken Sie nicht so! Ich weiß selbst, dass es keine Gespenster gibt!«
»Sie meinen das Gerede über Ihr Haus? Dass seit dem gewaltsamen Tod der Vorbesitzer ein Fluch darauf liegt?«
»Die Bolts waren auch nur Mieter, genau wie wir. Und ein komischer Zufall ist es schon, dass wieder etwas passiert ist. Aber darum geht es mir nicht.«
Pia verzichtete auf eine aufmunternde Zwischenbemerkung.
»Seit Milenas Tod passieren immer wieder seltsame Dinge: Frische Milch wird vor der Zeit sauer. Gegenstände verschwinden und tauchen wieder auf. Wir haben Ratten, die wir gar nicht wieder loswerden ...«
Bis auf die Ratten ist doch alles normal, dachte Pia. »Vielleicht hat sich nur Ihre Sicht auf die Dinge geändert«, sagte sie vorsichtig. »Wenn ein solches Verbrechen wie der Mord an Milena Ingwers geschieht, dann kann einen das schon nervös machen.«
»Ja, ja. Ich weiß. Selektive Wahrnehmung. Aber gestern ist Milenas Mutter zu uns in den Garten gekommen. Sie kniete mit einem Mal im Gemüsebeet. Genau dort, wo ihre Tochter gelegen hat. Ich bin zu ihr raus und hab sie angesprochen. Sie wirkte ... wie weggetreten. Es war direkt unheimlich. Sie war mir unheimlich.«
»Hat sie etwas Konkretes gesagt. Irgendein Anhaltspunkt, an dem wir ansetzen können?«
»Reicht es Ihnen nicht, wenn ich sage, dass sie sich seltsam aufgeführt hat?«
»Nein.«
»Also gut: Meine Tochter kam zu uns raus in den Garten. Sie versteckte etwas hinter ihrem Rücken. Ich überredete Zoe, es mir zu zeigen. Und als Frau Ingwers es sah, sagte sie etwas von ›den Satan nicht anrufen‹ und ich weiß nicht, was. Völlig verrückt.«
»Dass sie an die Existenz Satans glaubt, ist noch kein zuverlässiges Zeichen dafür, dass Judith Ingwers den Verstand verloren hat«, meinte Pia. Aber man sollte dem nachgehen, dachte sie.
»Es fehlte nicht viel, und sie hätte Schaum vor dem Mund gehabt. Wie dieser Geisterbeschwörer!«
Pia nickte. Ektoplasma, dachte sie. Sie hätte zu gern gewusst, wie dieser Aleister das mit dem Schaum gedreht hatte. Vielleicht eine chemische Reaktion wie bei einer Cola-Bombe? Laut fragte sie jedoch: »Wie bitte?«
Eher widerstrebend berichtete Irma Seibel von der Séance in ihrem Haus. Pia hörte sich ihre Schilderung aufmerksam an. »Also gut«, sagte sie schließlich. »Wir werden dem nachgehen. Doch etwas interessiert mich noch. Was hatte Ihre Tochter denn in der Hand, das diese Reaktion bei Milenas Mutter hervorgerufen hat?«
»Oh, warten Sie!« Irma Seibel nahm einen in Zeitungspapier gewickelten Gegenstand aus der Tasche und legte ihn behutsam auf den Schreibtisch.
Pia zog Handschuhe aus der untersten Schreibtischschublade und streifte sie über. Irma beobachtete sie mit unbewegter Miene. Pia faltete das Papier
Weitere Kostenlose Bücher