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Ostseeliebe

Ostseeliebe

Titel: Ostseeliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriela Jaskulla
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Sich für drei Jahre verschicken lassen. Den Traum von der Wissenschaft begraben. Über das Fortkommen entscheidet der Kreis, die politische Organisation am Ort. Einen ganz krummen Rücken kriegte man. Ständig schmerzende Knie - von den ideologischen Kniebeugen! Die Demütigung, um weiterzukommen, um anerkannt zu werden. Sie wollen sich auf Schafe spezialisieren? Hat der Kandidat einen ordnungsgemäßen ideologischen Standpunkt? Für die Doktorarbeit: Marxismus-Leninismus. Und Russisch. In Ungarn gibt es noch Wollschweine. Aber
zur Fortbildung wird er in die Mongolei geschickt. Da gibt es weder Schafe noch deutsche Landschweine. Aber dankeschön! Und die nächste Selbstverpflichtung. Und wenn man den Hund der alten Else Korten behandelt hat, schnell auf dem Nachhauseweg einen Schluck aus der Flasche nehmen. Brombeerschnaps, selbstgemacht, Herr Doktor! Herr Doktor! Der Alkohol. Was hätte man bloß ohne den Alkohol gemacht!? Neue vergebliche Hoffnungen nach der Wende. Und nun der Haß der Kollegen. Der Neid und der Haß. Früher hatte es Produktivität geheißen, jetzt nannten sie es Effektivität. Und ein paar Leute hatten sich Hunde angeschafft. Weil sie sich plötzlich alleine fühlten. Aber drei, vier Spaniels reichten nicht zum Überleben.
    Leise, bitter und leise, so redete Hanno jetzt, und er schien seine Worte an die Laterne oder an die Nachtluft oder an den Regen zu richten, es waren auch keine Sätze, die irgend jemand bewußt oder unbewußt formuliert hätte, es war eher wie ein nicht enden wollendes Strömen - so, als wäre ein inneres Organ gerissen und blutete nun, unaufhaltsam. Und diese Verletzung war die Erinnerung. Aus Hanno flossen die Qualen der vergangenen drei Jahre, und nichts gab es, kein Mittel, sie zu lindern. Nicht einmal das Zuhören.

13
    Julia wußte nicht mehr, wie sie nach Hause gekommen war. Da wartete Jeanette. Besorgt und aufgeregt. Und nahm sie in die Arme. Und kochte Tee. Und machte eine Flasche Rotwein auf. Und sah, wie Julias Zähne klapperten. Daß der dickste Pyjama keine Wärme spendete. Wie kalter Schweiß auf ihre Stirn trat. Schließlich schlüpfte sie zu Julia ins Bett.
    »Schsch... Ist ja gut! Komm her, Süße. Alles gut...«
    Doch Julia wußte, daß nichts gut war. Und vielleicht nie mehr gut werden würde. Nach Tagen erst konnte sie weinen. Und dann, dann fand sie kein Ende mehr. Jeanette bestand darauf, sie mit nach Bielefeld zu nehmen.
    »Du brauchst Abstand!« sagte sie. »Glaub mir, ich kenn’ das doch. Jetzt denkst du, daß du sterben wirst, wenn du von hier wegfährst, aber das stimmt nicht! Die Distanz wird dir helfen. Eine andere Perspektive. Und außerdem ist Weihnachten, deine Eltern warten auf dich, sie werden sich freuen!«
    Mit dem feinen Gespür der Kranken merkte Julia sofort, daß Jeanette log. Freuten sich ihre Eltern auf sie? Warteten sie? Wenn, dann aus Gewohnheit. Damit das elterliche Kartenspiel komplett wäre, dieses unerträgliche, alljährliche Familienkartenspiel. Aber sie war zu schwach, sich zu widersetzen. Anne Bult ließ sie sofort reisen, verstand, schwieg, gab ein Geschenk mit. Und so reisten sie.
    Ein Weihnachtsbesuch! War Weihnachten? Julia merkte von alledem nichts. Sie verbrachte die Tage zu Hause wie in einem Nebel. Die tröstenden Worte der Freunde, des Vaters erreichten sie nicht. Die meiste Zeit schlief sie. So wie früher. Abends hätte sie nicht mehr zu sagen vermocht, wer mittags mit am Tisch gesessen hatte. Tante Amelie, natürlich. Die unvermeidliche Tante Amelie. Der kleine Bruder, auch längst erwachsen, aber verspielt wie immer, als ob das Leben ihm einfach nichts anzuhaben vermochte. Die Mutter. Der Vater. Beim Nachrichtenschauen ertappte sie sich dabei, wie sie auf der Wetterkarte mit dem Blick an der Ostseeküste entlanghastete. Wo - da, da war die Insel, ihre Insel? Da mußte sie doch sein? Sie war nicht eigens abgebildet, auf einer Karte, die ohnedies nur Großstadtnamen verzeichnete, aber die große, die Nachbarinsel immerhin war eingezeichnet, und an deren Schulter, getrennt nur durch den schmalen Bodden, lehnte sich ihre Insel. Dort, da mußte sie sein... Die Lottozahlen! Da wußte sie, sie würde zurückkehren.
    Vielleicht nicht zu Hanno. Sie zwang sich zu denken: Ganz sicher nicht zu Hanno. Aber war es nicht ihre Art, Dinge zu Ende zu bringen? Hatte sie sich selbst nicht immer für gewissenhaft gehalten? Und hatte sie nicht noch viel vor mit ihrer Ladestein-Forschung? Hatte Anne Bult nicht die Möglichkeit von

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