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Ostseeliebe

Ostseeliebe

Titel: Ostseeliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriela Jaskulla
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eine weibliche Adresse eben, an die man seine erotischen Gefühle richten konnte. Aber: Ladestein war anders als der schüchterne und idealistische Schiller. Er kannte offenkundig eine Menge Frauen, und das Milieu, in dem er sich bewegte, zwang ihn keineswegs dazu, diese Erfahrungen zu verleugnen. Im Gegenteil! Es hatte einige Affären in seinem Leben gegeben, und diese Mizzis und Lieselottes waren in aller Freundschaft wieder aus seinem Alltag hinauskomplimentiert worden. Dafür gab es Zeugnisse. Die wenigsten schienen ihm gram gewesen zu sein. Julia erinnerte sich an die Erzählungen der alten Lisa in der Sauna. Ladestein bedachte alle seine früheren Freundinnen auch später noch mit Aufmerksamkeiten. Nur Malvine. Auch wenn es jetzt ein Bild von ihr gab und Zeugen, die sie in Berlin gekannt hatten - Malvine blieb rätselhaft.
    Bis dann eines Tages die Einladung von Marianne Brant
ins Haus kam. Das war typisch für die Gastwirtin: Einladungen schriftlich zu verschicken, mit der Post, die in Erikas Laden gesammelt, zur großen Insel geschafft und dort sortiert wurde - nur, um dann wieder zur Insel zurückbefördert zu werden. Viel schneller hätte Marianne die Einladung selbst vorbeibringen können. Aber sie wollte eben »eine gewisse Form« aufrechterhalten. Anne schmunzelte, als sie Julia die Einladung zeigte:
    »Typisch! Wenn es Marianne nicht schon gäbe, müßte man sie erfinden, meinst du nicht?!«
    Auf der Einladung stand:
    »Bereiten wird der Ewige der Scharen/für alles Volk auf diesem Berg/ein Trinkgelage duftgen Tranks/ein Trinkgelage abgeklärten Weins/Dufttrank, gemischt/Klarwein, geläutert; /Hat Warte ja gemacht zu Trümmerhaufen/die kühne Burg: verfallen/Der Fremden Wartburg: Nimmer aufgebaut. - In diesem Geiste des großen Jescha’Jahu wollen wir das Winterfest feiern; daß uns das neue Jahr nichts Böses dräue. Bringt Decken mit und Zahnbürsten! Es wird länger dauern. Um acht in der Restauration. Marianne.«
    »Was bedeutet denn das wieder?« Julia war erschrocken. »Meint die das ernst?«
    »Wie man’s nimmt. Es bedeutet erst mal gar nichts weiter. Oder: Es bedeutet, denke ich, daß sie sich langweilt. Oder daß sie merkt, wie lang der Winter ist. Sie wird älter, und sie ist allein.« Anne lachte. »Das ist eben Mariannes Art, Leute einzuladen. Und da kannst du sicher sein: zu feiern versteht sie wie keine andere. Deshalb auch die Geschichte mit den Decken. Es ist eben unmöglich, das ganze alte Gemäuer zu heizen, und natürlich geht sie davon aus, daß wir bleiben.«
    »Hat sie denn wirklich gern Gäste?«
    »Du meinst, weil sie ein bißchen seltsam ist und einschüchternd wirkt?«

    Julia nickte bloß.
    »Nun, ich denke«, Anne formulierte besonders vorsichtig, wenn es um andere ging, »ich denke, daß sie hart daran gearbeitet hat, so zu sein, wie sie ist, so bemerkenswert exzentrisch. Eine Frau wie Marianne hat es nicht unbedingt leicht, in keinem System dieser Welt.«
    »Du meinst, weil sie aussieht wie eine Elefantenkuh?«
    Anne runzelte die Stirn. »Ja, du hast recht, sie ist ziemlich mächtig geraten. Und früher hat sie, glaube ich, darunter ziemlich gelitten. Ich meine, sie war ja keine Diskuswerferin oder so etwas, keine Leistungssportlerin, niemand, der mit einem solchen Aussehen hätte für sich einnehmen können. Übrigens haben die versucht, so etwas aus ihr zu machen. Aber absurderweise hat diese mächtige Frau immer einen Hang zur Ästhetik gehabt, zum Schönen, wie sie es nannte. Jedenfalls ist sie so im Laufe der Zeit zu dem geworden, was sie ist. Ist hart geworden, kein Wunder. Bei den hochfliegenden Plänen, für die sie nie Unterstützung gefunden hat - vorher nicht und jetzt schon gar nicht.«
    Da war es wieder, dieses »Vorher« und »Nachher«, in das die Leute ihr Leben einteilten; sie hatten das Reden über eine Wende wörtlich genommen. Die, die sich im alten Staat hatten etwas zuschulden kommen lassen - die Wasserträger des Systems, die Mitläufer und die vielen, vielen Zuträger der Stasi -, die fürchteten sich. Die anderen verknüpften große Hoffnungen mit der neuen, freien Ordnung, hofften, daß das, was sie über all die Jahre nur im Verborgenen hatten pflegen und entwickeln können, nun gefragt sein, womöglich gar geachtet werde - um nun, drei Jahre nach dem großen Wandel festzustellen, daß sie völlig auf sich gestellt waren, daß niemand auf sie gewartet hatte - allenfalls auf sie als Ganzes, als wirtschaftliche Größe, als Absatzmarkt.
Das Meer

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