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Ostseeliebe

Ostseeliebe

Titel: Ostseeliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriela Jaskulla
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Ort, an dem sie sich befanden, hatte kein Aroma. Oder vielmehr: Man hatte
es ihm ausgetrieben. Das Bemühen um Naturnähe hatte aller Natürlichkeit den Garaus gemacht. Warum nur wirkten die Menschen hier, die zum Teil ihr Geld während der Woche in den Hafenstädten des Binnenlandes verdienten oder sogar ganze Semester lang fort waren, um zu studieren - wieso wirkten diese Menschen so viel echter als dieser Ort? Zumal die Scheune das Traditionslokal der Insel war, früher hatten die wenigen Bauern hier ihre Fuhren abgerechnet, und noch viel weiter zurück war diese große Halle wahrscheinlich Teil eines mittelalterlichen Klosters gewesen, das irgendwann einmal im 16. Jahrhundert von einem der vielen skandinavischen Eroberer niedergebrannt worden war.
    Julia fiel der Schweizer Schriftsteller ein, der in einem »Essay über Israel« ähnliche Beobachtungen gemacht hatte, nur verschärft durch die Bedeutung des Ortes: Die sogenannten »heiligen Stätten« in Israel waren Friedrich Dürrenmatt samt und sonders ziemlich profan, ja sogar abgewirtschaftet und leer erschienen. Sublimes, wenn man so will, »Heiliges« jedoch entdeckte der Reisende eher an unscheinbaren Orten, zum Beispiel in der Wüste. Enttäuscht hatte der Schriftsteller berichtet, wie er in Jerusalem einen Berg hinaufgeklettert war, auf der Suche nach dem Ort, an dem Jesus Christus die aufregendste Rede aller Zeiten, die Bergpredigt, gehalten hatte. Wie groß war seine Ernüchterung, als er, oben angekommen, eine Kirche entdecken mußte, galten ihm christliche Gotteshäuser doch eher als Ausgeburten von Ideologien denn als Orte von Einkehr und Andacht. Ein Monument war ohne Not an die Stelle der Natur, ein Symbol an die Stelle des Authentischen getreten. Der Schriftsteller faßte es so zusammen: Ideologie, diese festgezurrte Idee über die ganze Welt, ersetzt die Wirklichkeit. Und damit wird es unmöglich, die Wirklichkeit unverstellt zu erfahren... Und so war es im Grunde ja auch hier: Gleich wie die Bewohner der Bundesrepublik in den fünfziger
Jahren hatten nun nach der Wende die Bewohner dieser kleinen Insel im Osten nichts Eiligeres zu tun, als sich auf der Stelle diese aseptischen, nüchternen, bezeichnenderweise meist gekachelten Häuser zu bauen oder ihre alten Eigenheime entsprechend zu »modernisieren«, so daß sie plötzlich wirkten wie Schreine - Schreine oder Symbole der Marktwirtschaft, zu der sie sich soeben mit Mann und Maus bekehrt hatten, überzeugt von raschen Gewinnaussichten und versprochenen neuen Sicherheiten.
    Gebäude und Einrichtung, Wohnen und Leben entsprachen immer weniger ihrer persönlichen Lebenserfahrung oder einer gemeinsam erfahrenen Wirklichkeit, sondern einer bestimmten, anonymen Warenideologie... Wenn man Orte in Ruhe läßt, dachte Julia, dann entwickeln sie offenbar eigene Kräfte. »Aura« hieß das wohl, aber Julia spürte, daß der Begriff zu vage, zu ungenau war. Ein Ort, so fand sie, entscheidet immer noch selbst über seine eigene, unverwechselbare Art. Wenn man ihn läßt.

    Julias Kopf schmerzte, sie dachte an Jeanette. Die verehrte Dürrenmatt auch. Ein gutes Thema für einen Brief. Julia schreckte hoch. Anne Bult schob sie weiter. Sie sah sich um. Seemannsandenken waren im Raum verteilt, nicht um an etwas zu erinnern, das die Wirtsleute womöglich mit ihren Vorfahren oder früheren Betreibern der uralten Gaststätte verband - nein, es waren reine Dekorationsstücke, die meisten vermutlich irgendwo günstig erworben, Nippes wie die weißblauen Porzellanpudel, die Matrosen früher einmal wirklich ihren Liebsten aus England mitgebracht hatten, üppig verzierte Zuckerdosen dazu, Becher und Schüsseln mit aufgedruckten englischen Merksprüchen, kleine Petroleumlämpchen ohne Petroleum, getrocknete Blumenkränze. Das Notausgangsschild leuchtete. Natürlich krönte jeden Tisch ein kleiner Messingkrug, in dem Seidenrosen steckten. An
den Wänden goldgerahmte Spiegel, um die sich künstlicher Efeu wand. Julia zog es vor, im Vorbeigehen keinen Blick hineinzuwerfen. Sie begann schon jetzt zu schwitzen. Ein Tisch im Hintergrund war reserviert, und von dort drang Renates fröhliches Lachen herüber, ein ungewohnter Laut in der wohlkonservierten Künstlichkeit. Auch Jan war zu hören, der sicher bestätigend irgend etwas murmelte. Und der alte Weber, das Gesicht jetzt schon gerötet vor Aufregung. Und jede Menge Leute, die sie nicht kannte, festlich gestimmt und unternehmungslustig. Und Minarek - neben seiner blonden

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