Ostseeliebe
schien sie sich stets ein wenig belästigt zu fühlen, und niemand konnte zu einer so augenblicklichen, heimtückischen Verschlimmerung ihrer bösen Migräne beitragen wie das zehnjährige Mädchen. Also strengte Julia sich an. Und verkrampfte sich. Und weil sie das spürte, aß sie, um sich zu beruhigen. Das funktionierte. Und die anderen neckten sie nicht allzu sehr. Denn Julia war unansehnlich, aber auch offenkundig schlau. Intelligent, aber häßlich. Gut in der Schule, aber sanft wie ein Lamm, so ließ sich der Neid der anderen im Zaum halten. Hanno und Hilda waren Außenseiter geblieben. Sie nicht, sie hatte man schließlich akzeptiert. Dafür war sie dick geworden. Obwohl: Wenn sie so an sich hinunter sah, kam es ihr vor, als ob ihr Körper sich veränderte, sich streckte. So wie Bäume sich strecken. Für einen ersten Inselherbst gar nicht schlecht.
Malte lachte Julia frech an. Kein Zweifel, der hatte sie auch von oben bis unten angesehen, und was er da gesehen hatte, hatte ihm offenbar nicht mißfallen.
»Wie lang wollen Sie eigentlich bleiben?«
Er bemühte sich, hochdeutsch zu sprechen. Julia antwortete ihm.
»Wissen Sie eigentlich, auf was für einer höchst gefahrvollen Insel Sie hier sind?«
Der Mann hob und senkte die Augenbrauen so dramatisch wie ein Schmierenkomödiant. Aha, theatralisches Talent hatte er also doch, bei aller Introvertiertheit. Auf See hatten sich die Männer selbst unterhalten müssen; so etwas brachte Übung.
»Ich werd’ Ihnen mal erzählen, wie die Insel überhaupt entstanden ist! - Nein, kein Widerspruch!« sagte er zu den anderen Frauen, von denen sich allerdings nicht eine gerührt hatte.
»Aber erzähl ihr die jugendfreie Variante!« lachte Lisa.
»Wie schade!« mischte sich Mady Runge ein, deren Augen unternehmungslustig blitzten, wenn sie Malte anschaute.
»Es muß auf jeden Fall schon lange her sein, denn damals gab es noch reiche Leute auf der Insel«, begann Malte seine Geschichte. »Und die kleine Insel und die große Nachbarsinsel waren noch eins.« Malte erzählte vom Mond, der eines Abends merkte, daß ihm die Kraft ausging. Er konnte einfach nicht mehr zunehmen, obwohl es laut Kalender höchste Zeit dazu gewesen wäre. Also sattelte er einen der beiden Schwäne, die morgens immer die Sonne an das Firmament zogen, bat ihn, ausnahmsweise einmal eine Nachtschicht zu machen, und ließ sich zu der Insel fliegen. Das ging ganz leicht, denn der arme Mond war wirklich sehr abgemagert. Auf der Insel fand er eine Kate, die gehörte der Schneiderin des Ortes, einer Witwe, bei der klopfte er an. Nur noch mit ganz leiser Stimme vermochte er ihr zu sagen, daß er Hunger
habe, schrecklichen Hunger, und daß sie es gewiß nicht bereuen werde, wenn sie ihm zu essen gebe. So matt war er, daß man sogar sein feines, leises Mondstrahlen glatt übersehen konnte. Nun, die Alte war gutmütig und ließ sich nicht zweimal bitten, und dem Mond hatten belegte Brote mit Radieschen noch nie so gut geschmeckt wie hier, weil die Alte sie mit vielen guten Wünschen gewürzt hatte, und sogar ein wenig Tabak für sein Pfeifchen hatte sie noch! Am nächsten Morgen verabschiedete sich der Mond, schon gehörig gestärkt. Der Schwan würde zu tun haben, ihn wieder in den Himmel zu hieven! Und beim Lebewohl versprach der Mond, daß der Alten am ersten Gut, das sie anfaßte, nimmermehr Mangel herrschen sollte. Das kam der Witwe seltsam vor, also beschloß sie, sich erst einmal an den Webstuhl zu setzen, denn dort konnte sie am besten nachdenken. Und wie sie so webte und webte, wurde das Tuch immer breiter und floß ihr aus der Maschine, und sie wurde auf ihre alten Tage noch eine wohlhabende Frau! Davon hörte freilich ihre Nachbarin, eine reiche, aber mißgünstige Frau. Die lud sich den Mond ein, weil sie es ebenso bequem haben wollte. Und sie setzte dem Mond, wenngleich etwas unlustig, schmackhafte Speisen vor und einen ordentlichen Schluck kaltes Bier, und auch ihr versprach er, daß sie von dem im Überfluß haben sollte, was ihr als erstes in die Finger käme. Und verließ sie. Schon wollte die Frau, die sich sehr schlau glaubte, nach ihrer Kasse greifen, da hörte sie ihr liebstes Jagdpferd im Stall mit den Hufen scharren. Armer Benno, hast du Durst? dachte sie bei sich, lief hinüber und gab dem Pferd zu saufen. Aber, wie sie so den Pumpschwengel am Brunnen bediente und pumpte und pumpte, da hörte das Wasser gar nicht mehr auf zu fließen, und es floß über, über ihre teuren
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