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Ostseeliebe

Ostseeliebe

Titel: Ostseeliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriela Jaskulla
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klein, und in diesen improvisierten Wohnungen hausten zuweilen zwei, drei Familien beieinander. Von Ställen war meist keine Rede; das Vieh - ohnehin nur eine Kuh, ein Pferd und ein paar Hühner - lebte unter demselben Dach wie die Menschen. Und dort wurde auch das Getreide gedroschen und geklopft, dort wurden die geernteten Torfschichten aufgehäuft und getrocknet, so daß über allem ein warmer, modriger Geruch lag. Als im November 1888 endlich das erste Petroleumlicht im ersten, noch recht niedrigen Leuchtturm aufflackerte, da mußte es den Inselbewohnern wie das Licht der Aufklärung erschienen sein!
    Jeanette häufte reichlich Sahne auf ihr Kuchenstück.
    »Vielleicht haben die sich deshalb ja auch über die ersten Kurgäste zur Jahrhundertwende gefreut«, vermutete sie. »Während anderswo die exzentrischen Maler und Sängerinnen längst lästig fielen, hat man hier noch um jedes studierte Wesen gekämpft! Toleranz, aus der Not geboren.«
    »Aus der Not geboren ist hier manches«, fuhr Anne Bult fort. »Vieles, was die sozialistischen Volkskundler reizte,
die in den fünfziger Jahren in Scharen auf der Insel einfielen. Die studierten zum Beispiel die Häusermarken an den immer noch recht ärmlichen Katen. Es waren Eigentumszeichen, von Generation zu Generation weitervererbt. Sie wurden auch in Wiesenstücke gestochen, ja sogar noch auf den Rücken mancher Schafe fanden sich die seltsamen Zeichen, die Kreuze und Winkel, die Zacken und Dreiecke. Ein kompliziertes System für eine Gemeinschaft von Analphabeten! Julia war am Anfang ganz fasziniert davon.« Anne lachte.
    Jeanette staunte sichtlich: »Als ich vorhin die Häuser mit den Runenmarken passiert habe, da sind mir die schwarzen Zeichen eher wie Verwünschungen marodierender Banden vorgekommen. Oder auch wie Abwehrzauber, damit Pest und Cholera oder allzu anspruchsvolle Gäste dieses edle Anwesen nicht heimsuchen...«
    Anne Bult lachte. »Du hast zu viele historische Krimis gelesen. Immerhin - das könnte schon sein! Schließlich war man hier so abergläubisch, daß noch vor sechzig Jahren die letzte Windverkäuferin ihr gutes Auskommen hatte. Vom Fischland soll sie gekommen sein, dort hatte man sie vertrieben!«
    Julia wußte gar nicht, daß Anne, ihre nüchterne Anne, etwas für Spökenkiekerei übrig hatte! Aber die Ungezwungenheit, die von Jeanette ausging, gefiel Anne offenbar. Vorsätzliche Ungezwungenheit. Jeanette nahm nur Dinge ernst, die von unmittelbarem Nutzen waren. Alles andere wurde analysiert, bespöttelt, kommentiert und dadurch entkräftet. Jeder Schrecken - fast jeder Schrecken - verlor in Jeanettes Gegenwart seine Kraft. Das hatte Julia beinahe vergessen, so fern war ihr diese Ironie gerückt. Auch eine Art Abwehrzauber, dachte sie.
    Inzwischen erzählte Anne Bult von der sagenhaften Windverkäuferin. Es mußte eine seltsame Person gewesen
sein, die noch in den dreißiger Jahren in Stiftsdorf aktiv gewesen war. Die Schiffe fuhren damals längst unter Dampf, man brauchte den Wind nicht mehr für die Segel. Aber das waren Einsichten bei Tageslicht! Abends, in der Seemannsspelunke, die es damals am Hafen noch gab, stellte sich die Sache ganz anders dar! Da war es gut, den Wind auf seiner Seite zu wissen, bevor es erneut in den Skagerrak oder noch weiter nach Norden oder gar auf ganz große Fahrt, nach Rußland, ging.
    »Und mit dieser Angst machte die Alte ihr Geschäft.« Langsam kam Anne in Fahrt.
    Einer der Feriengäste, ein Landschaftsmaler aus Holland, hatte die Alte einmal gemalt. Das Bild zeigte eine wenig vertrauenerweckende, in viele Schichten Tücher gehüllte Person, klein und völlig vertrocknet, eine Haut wie ausgeblichene Torfballen, und aus einer Vielzahl miteinander verwobener und versponnener Runzeln hoben sich allein die Augen ab. Es waren die gelben Augen eines Habichts, die im Alter nichts von ihrer Schärfe und Klarsicht verloren hatten. Dazu paßten ihre übergroße Nase und das wüste Gesicht, das von zwei Ohren wie von Segeln flankiert wurde, großen Ohren - und so fleischig, daß es einen anständigen Menschen grauste. Das Haar, längst schütter geworden, hatte sie straff mit einem Tuch gebunden. Das Tuch auf dem Bild war schwarz, geschmückt mit goldenen Drachen. Viele Seeleute machten sich, wenn sie nüchtern waren, einen Jux mit ihr - aber wann waren sie schon nüchtern! Auch lehrte jeder neue Sturm, daß es besser war, sich mit den unerklärlichen Kräften der Natur gut zu stellen, und zu diesen Kräften

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