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Ostseeliebe

Ostseeliebe

Titel: Ostseeliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriela Jaskulla
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Häuser zu fallen, und Jeanette hätte es nicht gewundert, wenn ständiges Husten herausgedrungen wäre.
    »Ein Dorfarzt, so ein richtig patenter, der müßte doch hier ein Vermögen verdienen können?!«
    Die Häuser machten ihr Angst. Julia verstand das. Auch für sie veränderte sich das Dorf. Jetzt, wo die Rosenranken bereits ihre Blätter verloren hatten und der Wein schlaff und naß von den Fassaden hing, sah man deutlich, welches Haus demnächst dringend eine neue Kalkschicht brauchte. Trübe wehte der Rauch aus den Kaminen über die Straße, als triebe er vorsätzlich Dunkelheit vor sich her in das Dorf. Und mochten die Dorfbewohner auch längst Holzscheite in ihren Kaminen verbrennen, ein hartnäckiger Braunkohlegeruch hielt sich dennoch in den Straßen und brachte die alten Dezemberdepressionen zurück. Was tun bis Februar? Der Dezember war ja keineswegs der kälteste und härteste Monat auf der Insel. Das milde Klima der See sorgte vielmehr dafür, daß sich die Tiefstwerte bis mindestens zu Dreikönig in Grenzen hielten. Erst dann, wenn auch der Boden gründlich auskühlte, wenn die letzten Wärmereserven verbraucht waren, sanken die Temperaturen unerbittlich. Der Februar wurde auf den Inseln gefürchtet. Der Februar mit seinem eisigen Nordwestwind und dem Schnee, der oft ganz plötzlich herangeweht kam und die Dörfer, die doch gar nicht weit voneinander entfernt lagen, unerbittlich isolierte. Es gab Jahre - und die waren gar nicht so lange her -, in denen Stiftsdorfer und Neblaner wochenlang nichts voneinander gehört hatten. Damals war das Vieh verhungert, weil die Futtervorräte erschöpft waren und keine neuen herangeschafft werden konnten, und wehe dem, der einen Arzt brauchte!
    »Etwas von dieser komischen Wintermelancholie hat schon in Julias letztem Brief gestanden«, sagte Jeanette gerade.
Sie schüttelte sich. »Wißt ihr was«, sagte sie, wie um sich selbst aufzumuntern, »man müßte es sich halt ein wenig angenehmer gestalten, etwas unternehmen! Diese… diese Passivität, die ich hier wahrnehme, die führt schließlich zu nichts. Es ist doch lachhaft, daß erwachsene Menschen, sobald euer berühmtes warmes Oktoberlicht verschwunden ist, samt und sonders in eine Art von Starre verfallen, in banger Erwartung der großen Kälte, die erst nach Wochen oder Monaten oder manchmal sogar überhaupt nicht eintritt.«
    »Manchmal aber doch«, sagte Anne Bult. »Und dann würdest du dich wundern! - Noch ein Stück Kuchen?«
    Aha, dachte Julia, die beiden duzten sich schon. Immer hatte sie Jeanette um diese Fähigkeit beneidet, sofort Zugang zu wildfremden Menschen zu finden.
    »Man muß von den Skandinaviern lernen, pflege ich immer zu sagen«, meinte Jeanette. »Extrem widrige Bedingungen, extremes Output. Bewundernswert! Es ist dunkel - gut, dann müssen überall kleine Lämpchen hin! Es ist ungemütlich? Kerzen helfen gegen schlechte Stimmung im Raum, Johannisöl ist gut gegen bad vibrations in der Seele.«
    Jeanette war fest davon überzeugt, daß es für jede Widrigkeit eine Lösung, für jeden Schmerz eine Linderung und auf jede Frage eine Antwort gab. Das trieb sie vorwärts. Das hielt sie zusammen. Und so begriff sie die Welt: als tägliche Frage an ihren wachen Verstand. Julia kam sich angesichts solcher Tatkraft immer noch träge und unbeweglich vor.
    Jeanette kniff die Augen zusammen - nur halb, so wie es Kinder tun, wenn sie sich etwas vorstellen.
    »Man darf die Augen nie ganz schließen«, erklärte sie Anne Bult, die ihr fasziniert zuhörte. - »Sonst kommen die Träume, die man nicht mehr kontrollieren kann, Farbkringel zuerst, so sinnlose Kreise und Figuren. Und nachher brennen einem die Augen!«

    Was hatte sie gesehen, da, auf der Dorfstraße, unter halb geschlossenen Lidern? wollte Anne Bult wissen.
    Jeanette hatte die Schwermut gesehen und begriffen, daß diese jahrhundertealt war.
    Anne Bult nickte. Füllte Sahne und Kandis nach. Ging zum Fenster und schaute hinaus. Kehrte zum Tisch zurück und setzte sich. Dann erzählte sie weiter. Erzählte von der Insel. Sprach wieder druckreif. Ließ Jeanette trotzdem eintauchen in die Inselgeschichte. Erzählte von den Dorfbewohnern, wie sie, vor fünf, sechs Generationen um ihren ersten Pfarrer gekämpft hatten. Der hatte es ein halbes Jahr bei ihnen ausgehalten. Beschrieb die Katen, bei denen nur die Eckpfeiler, die die schäbigen Gebäude zusammenhielten, aus Holz waren. Der Rest bestand aus Torfballen und Sode, alles war niedrig und

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