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Ostseeliebe

Ostseeliebe

Titel: Ostseeliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriela Jaskulla
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gehörte auch die Alte. Sie wohnte ganz oben am Föhrenwald - in einem Haus, das unmittelbar nach ihrem Tod bis auf das Fundament niederbrannte, wie Anne Bult berichtete -, und wer zu ihr wollte, mußte den Hügelweg nehmen, der damals noch steiler und kotiger
war als heute und wo die Winde heulten, als hielten sie Wacht für die Alte. Ganz früher hatte sie sich auch als Wahrsagerin verdungen. Es hieß, sie könne den Wind lesen. Die Blätter an den Bäumen, das waren für sie Zungen, die in vielerlei Sprachen auf sie einredeten. Aber irgendwann mochte die Alte sich mit den Bäumen nicht mehr abgeben. Der Wald war ihre Sache nicht, das Grünzeug, so sagte sie verächtlich, war ihr zu geschwätzig, und sie erfuhr immerzu Dinge über die Menschen, die sie gar nicht wissen wollte und die ihr nachts, so sagte sie, den Schlaf zu rauben begannen. Wer fortan an ihre Türe klopfte und Rat begehrte, welche Frau er zum Beispiel nehmen solle, ob diese oder jene Schafherde besser für das Klima der Insel taugte, der wurde unverrichteter Dinge wieder fortgeschickt. »Was habe ich mit eurer Not zu schaffen!« soll die Alte unwirsch ausgerufen haben. Zuletzt redete sie eigentlich nur noch mit ihrer Ziege und mit einem räudigen Köter, der nie einen Mucks von sich gab und deshalb von ihr akzeptiert wurde.
    »Es war natürlich so mit der Wahrsagerei«, erzählte Anne Bult, »daß sich die Alte damit in Schwierigkeiten gebracht hatte, denn sie hatte einigen Burschen aus den Inseldörfern Mädchen eingeredet, die nicht besonders gut zu ihnen paßten. Hinterher stellte sich heraus, daß diese Mädchen - vermutlich etwas liederliche Dinger aus den Hafenstädten des Festlands - die Alte für ihre Empfehlungen bezahlt hatten, weil sie es auf den Besitz der Männer abgesehen hatten. Als das ans Licht kam, war die Alte natürlich nicht mehr so wohlgelitten... Nur auf ihre Windbeschwörungen, darauf mochte man doch nicht verzichten! Und so verkaufte sie weiter Winde aus ihrem Häuschen heraus, gute Winde, kräftige, aber stetige, warme, verläßliche Winde. Sanfte Sommerbrisen auch, die noch widerstrebende Bräute leidenschaftlich und gefügig machen sollten. Das eine oder andere Stürmchen hatte sie wohl auch in petto, so einen kleinen
herbstlichen Aufbrauser, der Freund und Feind abzulenken vermochte, wenn mal wieder ein nicht ganz legales Geschäft abzuwickeln war...«
    Heute gebe es übrigens wieder eine seltsame Alte, angeblich eine Nachfahrin der berühmten Windverkäuferin, die sich aber darauf beschränke, auf ihren ausgedehnten Spaziergängen jedem, der ihren Weg kreuze, gute Wünsche mitzugeben: »Gesundheit, Gesundheit und Wohlergehen!« pflege sie dann zu rufen, gestützt auf ihren knotigen Nußbaumstock, und versuche, ihren verkrümmten Rücken aufzurichten, um dem anderen ins Gesicht sehen zu können. »Guten Weg, guten Weg!«
    Jeanette schien sich ein wenig unwohl zu fühlen. »Gibt’s denn hier überhaupt keine Leute, die sich um die Zukunft kümmern? Ich meine, nichts gegen eure Geschichten, aber hier müssen doch ein paar Perspektiven her! Ich meine: Investitionen, Bildung von mir aus, irgendwas...«
    Anne Bult nickte ironisch. »Jaja, die Perspektiven. Laß dir von Julia mal die Erfolgsstory vom Golapark erzählen! Es ist so eine Sache mit dem Weiterkommen. Niemand ist versessener auf Modernisierung als die Inselbewohner - doch, doch, im Ernst. Niemand ist, wie soll ich sagen, anfälliger für alles Zukünftige als derjenige, den man in der Gegenwart betrogen und in der Geschichte ausgebeutet hat. Ein weites Feld...«
    Julia dachte nach, ob Anne wohl recht hatte, sah Gau, Schuck, Renate, die Frauen aus der Sauna vor sich, ihre kleinen Hoffnungen, ihre große Zaghaftigkeit. Jeanette fegte Krümel vom Tisch, die es nicht gab. Sie kannte Anne Bults Pausen noch nicht und war jetzt offensichtlich verlegen. Anne Bult merkte es nicht, strich Sahne auf ein Stück Honigkuchen, wartete, sprach schließlich weiter.
    »Vor zweihundert Jahren waren die Leute hier bettelarm. Aber sie haben begriffen, daß es nur mit Wissen und Bildung
weiterging. Also haben sie bei den Besitzern der Insel um Ärzte gebeten, Wundheiler, Hebammen wenigstens und haben sogar, zu Beginn des 19. Jahrhunderts, einige ihrer tüchtigsten Seeleute auf die Nachbarinsel geschickt. - Entschuldigt, ich komme schon wieder ins Dozieren! Jedenfalls hatten die Männer die Aufgabe, dort Lateinkenntnisse zu erwerben und Mathematik zu lernen, ein Wissen, das sie nach

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