Ostwind (German Edition)
den Mädchen, gerade als Mika die volle Schubkarre vorbeischob. Sie hielt inne und beobachtete interessiert die Szene.
»Vielleicht hat er ja eine degenerative Suspensory Ligament Desmitis? Oder eine Myositis?«, schlug Tinka vor. Doch sie erntete nur genervte Blicke von Michelle und den anderen Pferdemädchen.
Mit der freien Hand griff Tinka in ihren riesigen Putzkasten und zog eine rote Tube heraus, die sie Michelle reichte. »Hier. Das ist eine australische Warmesalbe. Hat Papa mir fur Archibald gegeben. Davon machst du ihm jeden Abend ein bisschen auf die Fesseln«, erklärte Tinka eifrig. »Nur nicht zu viel, sonst brennt’s. Bei Archi…«
Michelle warf die rote Tube zuruck in Tinkas Putzkasten. »Quatsch. Der ist einfach nur bockig«, unterbrach sie Tinka unwirsch.
»Oder er hat einfach nur Angst vor dir«, sagte Mika ruhig.
Mika war von den Mädchen bisher nicht bemerkt worden. Jetzt starrten sie alle ungläubig an.
»Und wer hat dich gefragt?«, fauchte Michelle von oben herab.
Mika schaute Weingraf an, der ihren Blick ruhig erwiderte. »Niemand. Ist nur so ein Gefuhl«, sagte sie nachdenklich. Dann packte sie die Schubkarre mit den Pferdeapfeln und ging weiter.
»Kummer dich einfach um deinen Mist, okay?«, rief Michelle ihr hinterher. Die Pferdemadchen kicherten. Nur Tinka kicherte nicht. Vielleicht hatte diese Mika ja recht?
Mika hätte Michelle gerne näher erklärt, was sie über Weingraf dachte. Aber als sie mit der leeren Schubkarre zurückkam, war niemand mehr da. Die Mädchen waren bereits auf dem Reitplatz. Sofort ließ sie die Schubkarre stehen und lief zu Ostwinds Box. Doch sie konnte sie nicht öffnen. Die Box war jetzt mit einer schweren Eisenkette gesichert. Vorsichtig spahte Mika hinein. Ihr Blick traf auf Ostwinds dunkle Augen. Der Hengst stand weit hinten an die Wand gepresst.
»Was hast du nur angestellt?«, fragte Mika.
Vorsichtig zwangte sie ihre Hand durch die engen Gitterstabe. Doch Ostwind warf den Kopf hoch und wieherte bedrohlich. Mika erschrak. Aber sie ließ ihre Hand, wo sie war. Zögernd kam das Pferd näher, Schritt für Schritt, bis seine Stirn ihre Hand beruhrte. Als Ostwind ins helle Licht trat, wurde deutlich, wie verwahrlost er aussah. Es gab Mika einen tiefen Stich ins Herz. Sein Fell war stumpf und verdreckt, eine verkrustete Wunde zog sich uber seinen Hals, und der Boden der Box war voller Mist. Ein jammerlicher Anblick.
Mika streichelte Ostwind. »Wie siehst du denn aus?«, flüsterte sie voller Mitleid.
»Mika?«, hörte sie plötzlich eine Stimme rufen. Es war Sam.
Erschrocken wich Ostwind zuruck und auch Mika zog schnell ihre Hand zuruck. Rasch lief sie aus dem Stall. Zum Glück hatte Sam sie nicht bei Ostwind gesehen!
Draußen drückte Sam Mika einen Gartenschlauch in die Hand, damit sie einen großen Bottich mit Wasser füllte. Aber Mika war nicht recht bei der Sache. Auf dem Reitplatz entdeckte sie Michelle auf Weingraf. Was für ein freundliches und gutes Tier, dachte Mika. Warum konnte Michelle ihn nicht mit mehr Respekt behandeln? Sah sie denn nicht, wie sehr er sich bemühte?
Mikas Blick folgte Weingraf, der schnaufend über den Platz galoppierte. Gerade setzte er zum Sprung an. Ob auch sie einmal auf einem Pferd …
»Okay, genug«, gab Sam Anweisung. Doch Mika reagierte nicht. Ihre Aufmerksamkeit galt immer noch Weingraf und dem Geschehen auf dem Platz. Alles andere um sich herum schien sie vergessen zu haben.
»Mika? Mika?!!«, rief Sam.
»Was?« Mika drehte sich zu Sam. Den Schlauch in ihrer Hand hatte sie logischerweise ebenfalls vergessen. Sam bekam einen Strahl eiskaltes Wasser ab. Er guckte genervt. Jetzt war dieses Stadtmädchen also auch noch zu dumm, einen Bottich mit Wasser zu füllen, ärgerte er sich. Konnte diese Mika überhaupt irgendetwas? Mit zunehmend schlechter Laune dirigierte er Mika wieder zurück in den Stall, damit sie ihm half, die Futtereimer zu verteilen.
Bereitwillig nahm Mika einen der Eimer und ging wie selbstverständlich direkt zu Ostwinds Box. Doch Sam hielt sie auf. »Wo willst du hin?«
Mika deutete in Ostwinds Richtung. »Na, zu ihm.«
Sam schuttelte den Kopf und nahm ihr den Eimer ab. »Das mache ich«, sagte er.
»Warum denn?«, wollte Mika wissen.
Sam antwortete nicht. Er ging auf die Box zu. Mika bemerkte, wie Ostwind immer nervöser wurde. Je naher Sam der Box kam, desto unruhiger wurde der Hengst. Er begann zu wiehern, drehte sich im Kreis. Als Sam unmittelbar vor der Box stand, rastete
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