Ostwind (German Edition)
füllte sie eine Schubkarre mit allem Putz- und Striegelzeug, das sie finden konnte, und ging zu Ostwinds Box. Leise öffnete sie das schwere Eisenschloss. Ostwind wieherte.
»Shht! Nicht so laut, sonst horen die uns doch«, flüsterte Mika verschwörerisch. Dann trat sie in die Box und machte sich an die Arbeit.
Als Erstes füllte Mika Ostwinds Futtertrog. Offensichtlich war der Hengst wieder extrem ausgehungert. Sofort machte er sich schmatzend über das Futter her. Während Ostwind fraß, mistete Mika die Box aus. Was für eine Schweinerei! So wollte doch niemand wohnen! Endlich fertig, gab Mika vorsichtig neue Streu in die Box. Dann striegelte sie Ostwinds Fell. Zwar wusste Mika noch nicht genau, wie sie es am besten machen sollte, aber nach und nach ging es immer besser. Mit einem Schwamm rubbelte sie die Dreckverkrustungen ab. Schließlich kämmte sie noch sorgfältig Ostwinds Mähne.
Mika hatte länger gebraucht, als sie gedacht hatte. Aber es hatte sich gelohnt: Im Morgenlicht stand ein ganz neues Pferd vor ihr.
Völlig zerzaust und verdreckt lehnte sich Mika gegen die Tür und betrachtete zufrieden ihr Werk. »Gar nicht ubel«, lobte sie sich und Ostwind.
Ostwind schnaubte. Er senkte seinen Kopf zu Mika, die ihm zartlich die Nase rubbelte.
Plötzlich wurde Mika das Herz unsagbar schwer. Sie spürte, dass Ostwind ihr etwas sagen wollte. »Du willst raus, hm?«, fragte sie.
Der Hengst wieherte leise. Zwar hatte Mika für einen Augenblick das Gefühl, dass sie im Begriff war, etwas Falsches zu tun, doch sie konnte nicht anders. Sie offnete die Boxtur.
»Okay, aber nur kurz … auf einen Spaziergang«, sagte sie.
Neugierig streckte Ostwind seinen Kopf in die ungewohnte Freiheit. Wie lange war er gefangen gewesen! Als könne er seine Befreiung selbst kaum glauben, verließ er nur vorsichtig die Box.
Mika spürte seine Nervosität und folgte ihm in die Stallgasse. Beide lauschten.
Von draußen drang morgenfrisches Vogelgezwitscher zu ihnen, kurz war auch das helle Lachen der ersten Pferdemädchen zu hören, die auf dem Hof ihre Fahrräder abschlossen. Ein Hahn krähte. Mit der aufgehenden Sonne war auch das Leben auf dem Hof erwacht. Vor dem Gutshaus humpelte Maria Kaltenbach aus der Tur, sie hatte einen dampfenden Becher Tee in der Hand. Auch Sam war schon auf den Beinen. Er kletterte verschlafen auf seinen Traktor und steckte den Schlussel ins Schloss.
Ostwind machte einen vorsichtigen Schritt nach dem anderen die Stallgasse entlang, die Ohren gespitzt. Doch mit einem Mal gab es einen ohrenbetäubenden Knall, der krachend über den Hof hallte – PENG! Der Traktor hatte eine Fehlzündung.
Ostwind zuckte panisch zusammen. Dann rannte er wie ein Teufel los. Mika konnte ihn nicht aufhalten. In einem verzweifelten Galopp fegte er aus dem Stall über den Hof und aus dem Tor. Entgeistert starrten alle Leute auf dem Gut dem fliehenden Hengst hinterher.
Mika war Ostwind sofort nachgestürmt. Doch als sie atemlos aus dem Stall stürzte, war er längst auf und davon. Dafür richteten sich nun alle Blicke auf sie.
Mit einem Mal wurde sich Mika ihres dreckigen Schlafanzugs und ihrer Haare voller Stroh unangenehm bewusst. »Guten Morgen«, krächzte sie.
Entgeistert stellte Maria Kaltenbach ihren Teebecher ins Nichts. Mit einem lauten Krachen fiel er zu Boden.
7. Kapitel
Mit einem Mathematikbuch zur Tarnung lungerte Mika auf der Vortreppe des Gutshauses herum und kaute nervos an ihren Fingernageln. Alles was Beine hatte, war auf der Suche nach Ostwind. Nur Mika durfte nicht mitsuchen. Das hatte ihr ihre Großmutter unmissverständlich klargemacht. Zur Tatenlosigkeit verdammt, hoffte sie nun inständig auf gute Nachrichten.
Als Sam mit einem Korb aus der Kuche kam, sprang Mika ihm vom Treppenabsatz in den Weg. »Und? Haben sie ihn gefunden?«, fragte sie.
Sam war sauer. Er hatte überhaupt keine Lust, mit Mika zu sprechen. »Nein«, murmelte er deshalb nur knapp.
Mika ließ den Kopf hängen. Jetzt war sie nicht mehr das leicht flapsige Stadtmädchen. Jetzt war sie eine ganz normale 13-Jährige, die Mist gebaut hatte und ehrlich bereute.
»Das ist alles meine Schuld«, sagte Mika todunglücklich.
»Ja«, bestätigte Sam erbarmungslos.
»Wenn ich wenigstens mitsuchen durfte …« Mika sah Sam flehend an.
»Super Idee.« Sam verdrehte die Augen. »Erst freilassen und dann suchen.«
»Wir wollten doch nur spazieren gehen«, erklärte Mika kleinlaut.
Sam sah Mika böse an. Aber dann hatte er eine Idee.
Weitere Kostenlose Bücher