Ostwind (German Edition)
den ganzen Abend nicht viel gesagt. Aber es war offensichtlich gewesen, dass sie etwas auf dem Herzen hatte.
Als sich Mika bereits zum Schlafen in ihr Zimmer zurückgezogen hatte, klopfte es noch einmal unerwartet an ihrer Tür. Mikas Großmutter betrat das Zimmer. Sie rang nach den richtigen Worten. »Mika, du hast mich heute sehr uberrascht«, sagte sie schließlich. »Du bist offensichtlich eine echte Kaltenbach.«
Damit streckte sie Mika ein Paar edle Stiefel hin. Mika erkannte die Reitstiefel aus der Olympiavitrine! »Ich hatte sie eigentlich fur deine Mutter aufgehoben, aber-«, sagte Maria Kaltenbach. Doch sie brachte den Satz nicht zu Ende. Stattdessen machte sie eine unbestimmte Handbewegung, als wollte sie eine unschöne Erinnerung wegwischen.
Mika wusste nicht, was sie sagen sollte. »Danke. Ich … Danke«.
Mikas Großmutter lachelte sanft und deutete auf Mikas abgewetzte rote Turnschuhe. »Tadellose Kleidung ist namlich auch eine reiterliche Tugend. Aber das lernst du noch.«
Dann strich sie ihrer Enkelin ungelenk ubers Haar. Mika stand mit den Stiefeln in der Hand da wie Falschgeld.
»Ich weiß, das geht alles ein bisschen schnell … aber du hast ein ganz außergewöhnliches Talent«, erklärte Mikas Großmutter.
»Das war Ostwind. Ich hab gar nichts gemacht«, erwiderte Mika.
Doch ihre Großmutter wollte von Ostwind nichts hören. »Ja. Sicher«, sagte sie ausweichend. »Morgen ist ein wichtiger Tag, geh bald schlafen, ja?«
Doch Mika ließ nicht locker. Sie fasste sich ein Herz: »Oma?«, fragte sie.
Maria Kaltenbach lächelte. Denn es war das erste Mal, dass Mika sie so nannte. Mika suchte nach Worten. »Das mit deinem Bein, das wollte er nicht«, sagte sie und sah ihre Großmutter bittend an.
Doch Maria Kaltenbach dachte nicht an Aussöhnung. Sie konnte es nicht. Ihre Zuge verharteten sich. »Gute Nacht«, verabschiedete sie sich knapp und schloss hinter sich die Tür.
Mika blieb allein zurück. Seufzend sah sie auf die Reitstiefel in ihren Händen.
Gut Kaltenbach war am nächsten Morgen nicht mehr wiederzuerkennen. Es war der Tag der Kaltenbach Classics. Dutzende Autos mit Pferdeanhangern parkten dicht gedrangt in der Auffahrt. Zahlreiche Reiter und Reiterinnen fuhrten Pferde mit geflochtenen Mahnen uber den Hof, Startplaketten wurden befestigt und Reitstiefel poliert. Festlich gekleidete Besucher liefen Richtung Reithalle, um sich gute Plätze zu sichern. Es war unschwer zu erkennen: Die Classics waren das sportliche und soziale Ereignis des Sommers in der Region.
Für Sam waren die Classics allerdings vor allem ein ganz normaler Arbeitstag, ein Tag, an dem er mit anfassen musste. Er stand gerade auf dem belebten Innenhof, als sich die Haustur des Gutshauses offnete. Das rothaarige Mädchen, das heraustrat, hätte er beinahe nicht wiedererkannt. Es trug ein schwarzes Reiterjackett mit dem Wappen des Gestuts und eine weiße Reiterhose. Sams anerkennender Blick wanderte zu ihren Stiefeln.
»Wahnsinn. Ich fass es nicht!«, rief er.
Mika lachelte verlegen. »Meine Turnschuhe waren mir lieber«, erwiderte sie.
Dann sah sie sich mit unsicherem Blick suchend um. Es fehlte jemand. Jemand, den sie gerne dabeigehabt hätte. »Meinst du, er kommt auch?«, fragte sie.
Sam wusste sofort, wen Mika meinte. Er zuckte mit den Schultern. »Mein Großvater hat seit zehn Jahren keinen Fuß mehr ins Gestut gesetzt, also sei nicht enttauscht.«
Mika erwiderte nichts. Aber Sam spürte ihre Unsicherheit. Er sah sie ernst an. »Das schafft ihr. Auch ohne ihn«, sagte Sam.
In diesem Moment tauchte Michelle auf. Grußlos ging sie an den beiden vorbei Richtung Stall und musterte Mika abschätzig von Kopf bis Fuß. Als sie jedoch die Stiefel an Mikas Füßen entdeckte, weiteten sich ihre Augen. Geschockt blieb sie stehen. Sie machte den Mund auf, als wollte sie etwas sagen, doch sie brachte keinen Ton heraus. Sam und Mika sahen sie fragend an.
Doch bevor einer von beiden etwas sagen konnte, fuhr ein Jeep vor, dessen Ankunft alle aufblicken ließ. Er trug das Wappen des Landes auf der Tur und daruber stand »Landestrainer Springsport«. Friedrich Fink war eingetroffen.
Gleich darauf lief Maria Kaltenbach schnellen Schritts auf Michelle, Mika und Sam zu. Michelle hatte sich wieder gefasst und lachelte ihr entgegen, doch Maria Kaltenbach hatte nur Augen fur Mika. Wohlwollend nickte sie uber ihr Outfit. Dann legte sie den Arm um sie und führte sie fort: »Komm, ich mochte dich jemandem vorstellen!«, sagte
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