Ostwind (German Edition)
ihnen das jetzt nicht erklaren. Sie mussen sich das einfach nur anschauen«, stammelte Sam.
Doch er wurde jäh unterbrochen. »Was fallt euch ein …«, entrüstete sich Frau Kaltenbach.
»Bitte!«, rief Sam inständig.
Maria Kaltenbach verstummte. Sam verstand dies als Einwilligung. Er atmete tief durch. Dann nickte er Mika zu und flüsterte: »Zeigt’s ihnen!«
Mika wendete Ostwind und ritt eine Runde durch die Halle. Ihre Unsicherheit war offensichtlich. Gegen Michelle auf Weingraf mit ihrem makellosen Reitdress wirkte Mika in ihren alten Jeans zudem ziemlich schabig. Die Pferdemädchen tuschelten.
»Was hat die denn an?«
»Kein Sattel?!«
»Ist das Ostwind?«
Mika lenkte Ostwind auf die Startposition. Dann beugte sie sich zum Hals des Pferdes hinunter. »Ich geh vor«, flüsterte sie.
Ostwinds Schnauben war die Antwort. Mika richtete sich auf und galoppierte an. Vor ihr tauchte das erste Hindernis auf. In Gedanken flog sie daruber hinweg. Dann sprang Ostwind ab.
Den Zuschauern entkam ein uberraschter Laut. Ein anerkennendes »Ahhhh …« tönte durch die Halle.
Mika lachte innerlich befreit auf. Es ging! Sie konnten es schaffen! Jetzt waren sie und Ostwind nicht mehr zu halten. Sie flogen formlich durch den Parcours. Kein Hindernis war ihnen zu hoch. Sie wuchsen mit jeder übersprungenen Latte über sich hinaus. Ihr Ritt spiegelte sich auch auf den Gesichtern des Publikums: von unglaubigem Erstaunen bis zu heller Begeisterung waren alle Gefühlsregungen vertreten.
Mika hatte sich noch nie so gut gefühlt. Sie ritt eine haarscharfe Kurve und galoppierte nun auf das letzte Hindernis zu: den Doppel-Oxer. Ostwind setzte zum Sprung an, sie hoben ab – und landeten fehlerfrei. Als der letzte Huf donnernd auf dem Boden aufsetzte, brachen die Pferdemadchen in frenetischen Jubel aus. Maria Kaltenbach sah fassungslos, wie ihre Schülerinnen auf Mika zustürmten und Ostwind umringten, der ruhig in ihrer Mitte stand. Alle wollten ihn anfassen.
Mika war der Tumult unangenehm. Aber nicht nur ihr – auch Michelle. Nur auf andere Art. Ihr bleiches Gesicht war eigentümlich verzerrt, während sie Mika fassungslos fixierte.
Mika spähte ängstlich zu ihrer Großmutter. Was mochte sie jetzt denken? Doch Maria Kaltenbach stand nur starr und ausdruckslos wie eine Salzsäule. Dann straffte sie die Schultern und ging ohne eine Miene zu verziehen auf Mika zu. Sam folgte ihr. Die Madchen bildeten eine ehrfurchtige Gasse. Mika lachelte ihrer Großmutter unsicher entgegen, bereit fur ein Donnerwetter. Maria Kaltenbach blieb vor ihr stehen. Sie wurdigte Ostwind keines Blickes und sah nur Mika an. Dann lächelte sie. »Das hast du gut gemacht … fur den Anfang.«
In diesem Moment wich auch die letzte Anspannung von Mika. Unendliche Erleichterung breitete sich in ihr aus.
»Das war er!«, rief Mika und umarmte Ostwinds Hals. Der Hengst schnaubte leise. Maria Kaltenbach wandte sich schnell Michelle zu.
»Hast du gesehen, Michelle, genau das meine ich. So musst du Weingraf morgen reiten!«, sagte sie.
Michelle traf diese Bemerkung erkennbar bis ins Mark. Aber Maria Kaltenbach sah es nicht. Michelle nickte knapp. Dann wendete sie Weingraf und ritt einsam aus der Halle.
»Das wird ein Spaziergang morgen!«, rief Sam triumphierend. Doch ein strenger Blick von Maria Kaltenbach brachte ihn zum Schweigen.
»Ich denke, vorher habt ihr mir beide einiges zu erklaren«, sagte sie streng. Sam und Mika schluckten und tauschten einen besorgten Blick.
»Auch wenn ich glaube, dass unsere Chance sich fur morgen mehr als nur verdoppelt hat«, beendete Frau Kaltenbach ihren Satz, der mit Jubelgeschrei ihrer Reitschülerinnen quittiert wurde.
14. Kapitel
Beim Abendessen erzählte Mika ihrer Großmutter ausgelassen von ihrem heimlichen Training bei Herrn Kaan. Auch Sam saß heute mit am Tisch. Er lachte viel und herzlich, besonders als Mika mit Händen und Füßen den eigenwilligen Unterricht seines Großvaters erklärte. Maria Kaltenbach beobachtete Mika hingegen mit einer Mischung aus Staunen und Stolz.
Mika war derart bester Stimmung, dass sie alles um sich herum vergaß. Sie dachte nicht mehr an ihren verpatzten Urlaub mit Fanny, das miese Zeugnis oder ihre wütenden Eltern. Aber sie dachte auch nicht mehr an ihren Lehrer, Herrn Kaan, der auf ihre und Ostwinds Rückkehr vom Gut wartete. Aber Maria Kaltenbach hätte sie wohl auch nicht mehr gehen lassen. Denn es wurde später und später, bald war es Nacht.
Mikas Großmutter hatte
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