Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
ging dennoch quälend langsam – der Schacht war zum Herumstöbern gedacht, nicht als nervenkitzelnde Todesfahrt –, aber sie hatte gar nicht vor, dem dicken Mann durch pure Schnelligkeit zu entkommen; dafür kannte er Mister J’s mit ziemlicher Sicherheit viel zu gut. Sie hatte sich einfach für einen Moment aus seinem Blickfeld begeben, weil sie hoffte, damit Zeit für eine effektivere Maßnahme zu gewinnen.
»Zufallssprung«, befahl sie.
Der Schacht mit seinen Tausenden wie Champagnerbläschen sprudelnden Sims verschwamm und löste sich auf, und an seiner Stelle erschien gleich darauf ein weiteres Gedränge von Leibern, diesmal aber alle nackt, obwohl einige Körpermerkmale aufwiesen, die sie noch nie an einer lebendigen menschlichen Gestalt gesehen hatte. Das Licht war ortlos und schwach, die einem förmlich auf den Leib rückenden Wände lagen in samtigen, uterusroten Falten. Von der hämmernden Musik flogen ihr beinahe die Ohrenstöpsel heraus. Ein Simgesicht, erschreckend ungenau ausgeführt, blickte aus dem Formenknäuel auf, das ihr am nächsten war; eine Hand wand sich frei und streckte sich ihr einladend entgegen.
»O nein«, murmelte sie. Wie viele dieser Gestalten waren wohl Minderjährige, Kinder wie Stephen, die von der Geschäftsführung mit süffisantem Grinsen eingelassen wurden, damit sie sich hier im Dreck suhlen konnten? Und wie viele getarnte Kinder waren vorhin mit im Gelben Zimmer gewesen? Bei dem Gedanken wurde ihr übel. »Zufallssprung.«
Ein großer Raum mit flachen Wänden tat sich vor ihr auf, dessen anderes Ende so weit weg war, daß man es kaum erkennen konnte. Gasflammenblaue Lettern erschienen vor ihr in einer Schrift, die sie nicht lesen konnte, während ihr eine Stimme Worte in die Ohren sprach, die ihr genauso unverständlich waren. Unmittelbar darauf wackelte das ganze Bild: Die Übersetzungssoftware hatte ihren Index gelesen und stellte auf Englisch um.
»… Wähle jetzt, ob du ein Mannschaftsspiel oder einen Einzelkampf wünschst.«
Sie starrte wie angewurzelt auf die humanoiden Gestalten, die auf einmal wie aus dem Boden geschossen hinter den blau brennenden Buchstaben auftauchten. Sie trugen Stachelhelme und blitzende Panzeranzüge; die Augen hinter den Visieren waren nur funkelnde Punkte.
»Du hast dich für den Einzelkampf entschieden«, sagte die Stimme mit einem leisen Unterton der Anerkennung. »Das Spiel gestaltet jetzt deine Gegner…«
»Zufallssprung.«
Sie bewegte sich immer schneller durch die Räume, in der Hoffnung, auf ihrem Pfad so viele Bruchstellen zu hinterlassen, daß Strimbello eine ganze Zeit brauchen würde, um sie zu finden, selbst wenn er versuchte, ihren Standort direkt zu ermitteln. Sie sprang, und die Szene war …
Eine Bucht, umgeben von sich gemächlich wiegenden Palmen. Barbusige Nixen rekelten sich auf den nahen Felsen und kämmten sich die Haare, während sie sich ihrerseits zu schmachtender Hawaiigitarrenmusik wiegten.
Sie sprang.
Ein langer Tisch mit einem leeren Platz. Die zwölf Männer, die daran saßen und warteten, trugen alle lange Gewänder, die meisten hatten Bärte. Einer drehte sich um, als sie hereinplatzte, lächelte und rief: »Setz dich, o Herr.«
Sie sprang erneut und sprang immer weiter.
Ein völlig schwarzer Raum mit funkelnden Sternen hoch droben, wo eigentlich das Dach hätte sein sollen, und rot erleuchteten Spalten im Fußboden. Irgendwer oder -was stöhnte.
Eine Meute von tausend Männern mit glatten Köpfen wie Crashtest-Dummies, alle in den gleichen Overalls. Sie saßen in zwei langen Reihen auf Bänken und ohrfeigten sich.
Ein Urwald voller Schatten und Augen und leuchtender bunter Vögel. Eine Frau in einer zerrissenen Bluse war an einen Baum gefesselt. Ölige rote Blüten waren um ihre Füße aufgehäuft.
Ein Cowboysaloon. Die Bösen trugen Sporen und sonst nichts.
Eine schaukelnde Schiffskabine mit schwingenden Öllampen und Bierkrügen in kardanischen Halteringen.
Ein glitzernder Ballsaal, in dem alle Frauen ihre Gesichter hinter Tiermasken versteckten.
Eine mittelalterliche Schenke. Das Feuer brannte hoch, und draußen vor den winzigen Fenstern heulte etwas.
Eine leere Parkbank neben einer Straßenlaterne.
Ein Inferno aus dröhnendem Lärm und blendendem Licht, möglicherweise eine Disco.
Eine Höhle mit feuchten Wänden, erhellt von spinnwebartigen Leuchtfäden, die von der Decke hingen.
Eine altmodische Telefonzelle. Der Hörer baumelte herunter.
Eine Wüste mit Wänden.
Ein
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