Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
Casino, in dem die Gangsterära der Hollywoodfilme zu herrschen schien.
Eine Wüste ohne Wände.
Eine Stube mit einem glühend heißen Fußboden und Möbeln nur aus Metall.
Ein koreanischer Ziergarten mit ächzenden nackten Gestalten in allen Büschen.
Ein Straßencafé neben den Trümmern einer alten Autobahn.
Eine Gartenterrasse, die wie ein Theaterbalkon von einer hohen Felswand abstand. Daneben donnerte ein gewaltiger Wasserfall in die Schlucht hinunter…
Schwindlig, beinahe krank vom Tempo ihrer Szenenwechsel blieb Renie auf der Terrasse stehen. Sie schloß die Augen, bis der Farbentumult sich beruhigt hatte, dann öffnete sie sie wieder. Ein paar aus dem guten Dutzend von Gästen, die am Rand des Gartens an Tischen saßen, blickten beiläufig auf und wandten sich dann wieder ihren Gesprächen und dem Schauspiel des Wasserfalls zu.
»Kann ich behilflich sein?« Ein lächelnder älterer Asiate war neben ihr aufgetaucht.
»Ich habe Probleme mit meinem Pad«, erklärte sie ihm. »Könntest du mich mit eurer Vermittlungszentrale verbinden?«
»Schon geschehen. Möchtest du einen Tisch haben, während du die Sache regelst, Herr Otepi?«
Verdammt. Sie hatte in einer der teuren Zonen des Clubs Halt gemacht. Natürlich hatten sie gleich bei ihrem Eintritt ihren Index abgerufen. Wenigstens hatten sie sie nicht festgehalten; vielleicht hatte Strimbello gar keine allgemeine Suchaktion angezettelt. Dennoch sollte sie ihr Glück nicht herausfordern. »Noch nicht, vielen Dank. Kann sein, daß ich gleich weiter muß. Nur einen Datenschutzschild bitte.«
Der Mann nickte, und weg war er. Ein blauer Lichtkreis legte sich auf Taillenhöhe um sie, zum Zeichen, daß sie abgeschirmt war. Sie konnte nach wie vor das Dröhnen des großen Wasserfalles hören und ihn die Felsen hinunter in die Schlucht stürzen sehen, wo er in einer weißen Gischtwolke verschwand, sie konnte sogar die anderen Gäste sehen und über dem Getöse des Wassers den einen oder anderen Gesprächsfetzen aufschnappen, aber diese anderen sollten sie eigentlich nicht mehr sehen und hören können.
Es gab keine Zeit zu verlieren. Sie zwang sich, ruhig zu überlegen. Sie durfte nicht eher gehen, als !Xabbu sicher offline war, doch wenn er das schon sein sollte, hatte sie keine Möglichkeit, es zu erfahren. Wenn sie blieb, würde Strimbello sie sicher eher früher als später finden. Er hatte vielleicht keine allgemeine Suchaktion ausgelöst – selbst als unbefugter Eindringling war sie wahrscheinlich im ganzen gesehen nicht sehr wichtig –, aber Strimbello selbst, ob er nun ein Mensch oder ein furchterregend realistischer Replikant war, hatte nicht wie einer gewirkt, der sich leicht geschlagen gab. Sie mußte einen Weg finden, innerhalb des Systems zu bleiben, bis sie entweder !Xabbu ausfindig gemacht hatte oder gezwungen war aufzugeben.
»Telefonverbindung.«
Ein graues Viereck erschien vor ihr, als ob jemand ein Stück aus der Wirklichkeit herausgeschnitten hätte – oder vielmehr aus der Schein-Wirklichkeit. Sie nannte die Nummer, die sie haben wollte, und gab dann den Kenncode ihres Pads ein. Das Viereck blieb grau, aber in der unteren Ecke tauchte ein leuchtendes Pünktchen auf und zeigte an, daß sie mit der Reservebank verbunden war, die sie für einen solchen Notfall angelegt hatte.
»Karneval.« Sie flüsterte, aber das war nur ein Reflex: Wenn der Datenschutzschild funktionierte, konnte sie das Codewort schreien, bis ihr die Lungen weh taten, ohne daß es jemand hörte. Wenn nicht, dann war alles, was sie getan hatte, ihren Verfolgern bereits bekannt.
Niemand schien zu gucken. Die Reservebank lud die neue Identität augenblicklich herunter. Sie war gelinde enttäuscht, daß sie nichts spürte – sollte eine Verwandlung, ein derart altehrwürdiges Zauberkunststück, nicht irgendeine Empfindung verursachen? Aber natürlich hatte sie sich gar nicht wirklich verwandelt Sie hatte immer noch den unscheinbaren Sim, in dem sie gekommen war, und dahinter war immer noch Irene Sulaweyo, Dozentin und Gelegenheitsbanditin im Netz. Nur ihr Index hatte sich geändert. Herrn Otepi aus Nigeria gab es nicht mehr. Seinen Platz hatte Herr Babutu aus Uganda eingenommen.
Sie hob den Datenschutzschild auf und betrachtete den mächtigen Wasserfall, den eleganten Ziergarten. Kellner oder Wesen, die wie Kellner aussahen, glitten von Tisch zu Tisch wie Wasserläufer. Sie konnte nicht ewig hier bleiben. In so einem serviceintensiven Sektor des Clubs würde man
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